Titel
Gesundheit ist in den westeuropäischen Ländern und den USA ein
unausweichliches, unentfliehbares Dauerthema geworden, das immer mehr
Lebenszeit und -energie bindet. Aus theologischer Perspektive fällt auf, daß
Gesundheit sehr häufig mit religiöser Wertigkeit versehen wird. Oft geht es
nicht mehr um das leibliche und seelische Wohl, sondern um die Verwirklichung
von Heil. Healthism ist in den USA längst zum Gegenstand
religionssoziologischer Forschung geworden und wird als Religionssystem
untersucht.
Allerdings macht die Konzentration auf die Gesundheit das Leben nicht leichter.
Widersprüche tauchen auf: Je mehr wir das Leben in die Hand zu bekommen scheinen,
umso unerträglicher wird Krankheit als Lebensstörung. Je mehr das Leben verlängert
werden kann, umso grausamer erscheint sein Ende. Derzeit erlebt unsere Gesellschaft
eine eigentümliche Mischung von Abschiebung und Faszination des Todes. Einerseits
gliedert sie Tod und Sterben aus dem Leben aus, auf der anderen Seite gibt es einen
großen Markt für Bücher, die sich mit der ars moriendi beschäftigen.
Viele Widersprüche im Umgang mit Leben und Tod sind darin begründet, daß wir
unsere eigene Geschöpflichkeit in vielfältiger und folgenschwerer Weise mißachten.
Merkmale der Geschöpflichkeit
Der Begriff der Geschöpflichkeit lokalisiert das Menschsein wie alles Geschaffene im
Gegenüber zur Schöpfermacht Gottes. Das Verständnis menschlichen Daseins als ein
geschöpfliches beinhaltet, daß menschliches Dasein immer in zwei Grundbeziehungen
steht: im Verhältnis zu Gott als dem Ursprung allen Daseins und im Verhältnis zu allem
anderen Geschaffenen. Menschliche Kultur ist geschöpfliche Kultur.
Geschöpfliches Dasein ist ein gegebenes, empfangenes; es steht nicht zu unserer
Disposition. Diese Unverfügbarkeit des Daseins ist eine entscheidende Bedingung
menschlicher Gesellschaft. Auf ihr ruht das Tötungsverbot, sie ist Grundlage der
Personenwürde des Menschen, seiner Unantastbarkeit und seiner Freiheit. Dabei ist
nicht zu übersehen, daß dem Menschen sein Dasein unverfügbar gegeben ist, damit er
es gestaltet.
Am deutlichsten wird die Endlichkeit des Geschöpfes in seiner Sterblichkeit. Sie zeigt,
daß geschöpfliches Dasein immer ein erschöpfliches ist, das mit seinen endlichen
Ressourcen haushalten muß. Doch die begrenzte Quantität der Lebenszeit ist die
Voraussetzung für die Qualität des Lebens. Christliche Hoffnung widerspricht dieser
Endlichkeit nicht, sie lädt ein, darüber hinaus zu hoffen. Deshalb faßt sie sich im
Hoffnungsbild von der Auferstehung der Toten zusammen, in der Hoffnung auf
Neuschöpfung, nicht auf endlos verlängerte Lebenszeit.
Die verdrängte Geschöpflichkeit
Daß wir den Tod zu verdrängen versuchen, ist Teil des umfassenderen Versuchs,
unsere Geschöpflichkeit zu verdrängen. Es besteht kein Zweifel, daß der
wissenschaftlich-technische Fortschritt die Grenzen der Verfügbarkeit, der
Nutzbarmachung der Natur weit ausgedehnt hat. Können sie so weit gedehnt werden,
daß Anfang und Ende des Lebens verfügbar werden? Das Streben nach Aufhebung der
Grenzen und der Glaube an eine progressive Verfügbarkeit des menschlichens Lebens,
der hinter vielen Ausprägungen des modernen Fortschrittsoptimismus steht, sind
Hintergründe für die Verdrängung der Geschöpflichkeit.
Die Mechanismen sind den meisten wohlbekannt aus der Berufspraxis, aber auch dem
Umgang mit uns selbst:
- Ignorieren der Geschöpflichkeit durch die Konzentration auf das Nächstliegende;
- Kompensation des Bewußtseins um die Endlichkeit des Lebens durch intensive
Erlebniskultur;
- Delegation der Verantwortung für die eigene Geschöpflichkeit
- Betäubung des Wissens um die Endlichkeit
- Versuch der aktiven Entfristung unseres Daseins durch Überlebensstrategien;
- Fatalismus: die Aufgabe der Verantwortung für die eigene Geschöpflichkeit.
Wie ist der Verdrängung zu begegnen?
Der gelingende Umgang mit unserer Geschöpflichkeit ist eine allgemein menschliche
Aufgabe, die nicht delegierbar ist. Wie alle Orientierungsfragen kann sie nur vom
Menschen selbst in Gemeinschaft mit anderen beantwortet werden. Wir sollten all
denen mit Skepsis begegnen, die uns anbieten, die Orientierungsfrage stellvertretend für
uns zu lösen. Jeder kann sich fragen, was er in seinem Arbeitsfeld zum gelingenden
Umgang mit der Geschöpflichkeit beitragen kann.
Wir tragen dazu bei, wenn wir die Kollaboration mit der Verdrängung verweigern. Das
bedeutet gerade für Apotheker, daß sie zwischen Werbung und Aufklärung
unterscheiden müssen und ihren Kunden oder Patienten auch Ent-Täuschungen zumuten
müssen. Wir tragen dazu bei, indem wir Patienten und Kunden nicht auf ein
Symptomenbild oder einen Befund reduzieren lassen, sondern als menschliches
Geschöpf mit einer Erkrankung sehen, das durch ein unverfügbares, endliches Sein
ausgezeichnet ist. Wir tragen dazu bei, indem wir uns nicht auf eine merkantile Funktion
reduzieren lassen, als Anbieter medizinischer oder pharmazeutischer Produkte. Wir sind
Menschen, die eine bestimmte Funktion menschlich wahrnehmen sollen. Arztpraxen,
Krankenhäuser und Apotheken sind deshalb vorrangig Stätten menschlicher Begegnung
und erst dann Funktionsbereiche zur Erbringung von Leistungen.
Menschlich sein bedeutet, daß wir uns von Gott unterschieden sein lassen als seine
Geschöpfe, die nicht seine Nachfolger sein wollen. Menschliches Handeln bewahrt
dann seine geschöpfliche Sachlichkeit, wenn es nicht versucht, Heil zu schaffen, sondern
sich auf das Menschenmögliche beschränkt: das Wohl des Menschen zu fördern.
Titelbeitrag von Professor Dr. Christoph Schwöbel, Institut für Systematische
Theologie und Sozialethik, Kiel
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