Titel
Durch rund ein Fünftel der in Deutschland eingesetzten Medikamente kann
die Sicherheit im Straßenverkehr reduziert werden. Diese Größenordnung
ergibt sich aus der Anzahl der auf dem Markt befindlichen Medikamente mit
Verkehrswarnhinweis und ihrem Verbrauch. Der Standardtext des
Warnhinweises nennt das Risiko bei der aktiven Verkehrsteilnahme und der
Maschinenbedienung. Ferner spricht er die Gefahren bei gleichzeitiger
Alkoholeinnahme an. Die tatsächliche Rolle der Medikamenteneinnahme für
die Unfallentwicklung im Straßenverkehr und auch für Arbeitsunfälle ist
allerdings bis heute mangels geeigneter statistischer Daten nicht bekannt und
damit auch nicht quantifizierbar (man schätzt, daß 25 Prozent der Unfälle durch
Medikamente mitverursacht werden).
Durch eine Vielzahl von Studien läßt sich demonstrieren, daß Medikamente das
sicherheitsrelevante Leistungsvermögen zum Teil erheblich stören können. In
therapeutischer Dosierung bewirken zum Beispiel Benzodiazepine oder trizyklische
Antidepressiva speziell zu Beginn einer Behandlung Leistungsstörungen, die etwa denen
einer Blutalkoholkonzentration von 0,5 Promille gleichkommen, sie teils aber auch
deutlich übersteigen. Besonders leistungsmindernd fällt die Kombinationswirkung von
sedierenden Arzneimitteln mit Alkohol aus. Das Spektrum der Medikamentengruppen,
die Leistungsverschlechterungen bewirken können, ist groß. Es reicht von den
Psychopharmaka über Hypnotika, Herz/Kreislaufmittel, Analgetika, Antihistaminika bis
hin zu Muskelrelaxanzien und Mitteln der Augenheilkunde. Es gibt allerdings in vielen
dieser Gruppen auch Arzneimittel ohne nachteilige Wirkungen auf das
Leistungsvermögen. Ist eine Sedierung im Rahmen der Therapie unvermeidbar, dann
muß der Arzt den Patienten explizit darauf hinweisen, daß das Kraftfahren zumindest zu
Beginn der Behandlung unterbleiben muß. Bei Selbstmedikation muß der Apotheker
diese Aufklärung wahrnehmen.
Der Straßenverkehr ist zwar ein wichtiges Thema für die allgemeine Sicherheit, er stellt
aber keineswegs das größte Risikopotential dar. Rund 40 Prozent der Unfalltoten in
Deutschland sterben infolge von Verkehrsunfällen, aber 60 Prozent der Getöteten und
sogar 94 Prozent der jährlich weit über 8 Millionen Unfallverletzungen stammen aus
anderen Lebensbereichen. Unfallverletzungen geschehen in Deutschland zu je rund
einem Viertel in den Bereichen Arbeit, Haushalt und Freizeit, immerhin noch zu 15
Prozent im Bereich Schule und lediglich zu 6 Prozent im Straßenverkehr. Mit den
Lebensbereichen, in denen Unfälle passieren, sind auch Altershäufungen verknüpft: ein
Viertel der Verletzten war unter 15 Jahre, ein weiteres Viertel 15 bis 24 Jahre, 15
Prozent waren über 64 Jahre alt. Das bedeutet, daß die sogenannten "aktiven
Jahrgänge" von 25 bis 64 Jahren, die der Standardwarnhinweis in erster Linie anspricht,
nur zu gut 30 Prozent von Unfallverletzungen betroffen waren.
Entsprechend wirkt sich durch Arzneimittel reduzierte Sicherheit nicht nur im
Straßenverkehr oder in der Arbeitswelt aus, wie es der Verkehrswarnhinweis
suggeriert, vielmehr muß der Blick für das potentielle Risiko der Medikamente auch in
anderen, quantitativ und qualitativ bedeutsamen Bereichen der Alltagssicherheit
geschärft werden. Bemerkenswerterweise werden die für praktisch alle Patienten - vom
Kind bis zum Greis - geltenden Risiken durch Arzneimittel im Heim- und Freizeitbereich
bisher kaum thematisiert. Kinder und ältere Menschen sollen deshalb unter diesem
Aspekt näher betrachtet werden.
Kinder sind bis heute hinsichtlich der medikamentenbedingten Reduzierung des
Leistungsvermögens kaum beachtet worden, obwohl ihre grundsätzliche
Unfallgefährdung erheblich ist. Kinder und Jugendliche im Alter bis zu 24 Jahren
erleiden mit 4 Millionen rund die Hälfte aller Unfälle mit Verletzungen. Stürze gehören
bei ihnen aufgrund des großen Bewegungsdranges zu den häufigsten Unfallarten.
Medikamente sind hier insbesondere dann als risikosteigernd anzusehen, wenn sowohl
die zu behandelnde Erkrankung als auch das eingesetzte Arzneimittel negative
Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit haben.
Bereits ab 45 bis 50 Jahren findet sich im Heim- und Freizeitbereich eine Zunahme von
Unfällen durch Stürze beim Gehen sowie auf Treppen oder Leitern. Auslöser sind
altersbedingt nachlassende sensorische und psychomotorische Fähigkeiten.
Verkehrsunfälle älterer Fahrer (> 65 Jahre) unterscheiden sich auch aus diesem Grunde
von denen jüngerer: meist handelt es sich um Vorfahrtverletzungen speziell in komplexen
Verkehrssituationen, um Schwierigkeiten beim Einfädeln in den fließenden Verkehr
sowie beim Wenden und Zurücksetzen. Wenn ältere Menschen nur noch mit Mühe die
Anforderungen moderner Technik erfüllen können und leistungsmäßig wenig Reserven
haben, steigt das Risiko deutlich an, durch Erkrankungen und Medikamentengebrauch
in eine unfallträchtige Situation zu geraten. Speziell für ältere Menschen relevant sind
Behinderungen des Bewegungsapparates, Herz/Kreislauf- und Gefäßerkrankungen,
Diabetes, neurologische Erkrankungen, psychische Erkrankungen sowie Mißbrauch
und/oder regelmäßige Einnahme psychotroper Substanzen.
Wenn das therapeutische Konzept es zuläßt, sollten der Arzt oder Apotheker
vorzugsweise auf Medikamente zurückgreifen, die die Leistung nicht oder nur
geringfügig beeinträchtigen.
Eine Neufassung des Warnhinweises unter Berücksichtigung des Begriffs
Alltagssicherheit und der über den Gebrauch von Kraftfahrzeugen oder Maschinen
hinaus betroffenen Bevölkerungskreise erscheint dringend erforderlich.
PZ-Titelbeitrag von Klaus-Wolfgang Herberg, Köln
© 1997 GOVI-Verlag
E-Mail: redaktion@govi.de