Titel
Die Marktwirtschaft kennt keinen gleichförmigen Verlauf. Aufschwung und
Abschwung, Konjunktur und Rezession wechseln einander regelmäßig ab.
Kurze und mittlere Wirtschaftsschwankungen mit einer Dauer von 3 bis 11
Jahren sind aus der Erfahrung allgemein bekannt. In der Marktwirtschaft
treten aber auch lange Schwankungen mit einer Periode von 40 bis 60 Jahren
auf. Sie werden Kondratieff-Zyklen genannt. Krisen gehören zum Wesen der
Marktwirtschaft, sie treten in der Auslaufphase eines Konjunkturzyklus auf.
Krisen können wenige Monate dauern und sich auf wenige Branchen
beschränken, sie können sich aber auch über mehrere Jahre erstrecken und
die gesamte Wirtschaft einer Region oder eines Landes erfassen.
Die letzte Wirtschaftskrise ereignete sich in den 70er Jahren, als die OPEC die
Rohölpreise dramatisch erhöhte und den Industriegesellschaften keine Zeit zur
Anpassung ließ. Sie markierte den Abschwung des vierten Kondratieff-Zyklus. Tiefe
Krisen treten insbesondere in den Übergangsphasen zweier Kondratieff-Zyklen auf,
weil in dieser Zeit das Nutzungspotential des aktuellen Langzyklus weitgehend erschöpft
und der neue noch nicht ausreichend entwickelt ist, um der Wirtschaft die notwendigen
Wachstumsimpulse zu liefern.
Kondratieff-Zyklen sind Innovationsschübe, die von bestimmten
technisch-ökonomischen Neuerungen, den Basisinnovationen, ausgelöst werden und mit
starken Produktivitätssteigerungen verbunden sind. Im ersten Kondratieff-Zyklus
konnte durch die Erfindung der Dampfmaschine mechanische Energie in einem bis dahin
nicht gekannten Maße bereitgestellt werden, die insbesondere den rasanten
Aufschwung der Textilindustrie ermöglichte. Der zweite Kondratieff-Zyklus war die
große Zeit des Stahls; zugleich wurden durch die Eisenbahn die Transportkosten für
Waren und Menschen drastisch gesenkt, wodurch Handel und Industrie wesentlich
größere Ausdehnungsmöglichkeiten erhielten. Der dritte Zyklus wurde durch die
elektrotechnische und chemische Industrie getragen. Es war der erste Langzyklus, der
von der praktischen Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse profitierte. Die
Entdeckung des Elektrodynamo-Prinzips und die Erkenntnisse des Aufbaus der
Materie, wie sie die Quantentheorie lieferte, führten zur Entwicklung zahlloser
elektrischer und chemischer Produkte. Basisinnovationen des vierten
Kondratieff-Zyklus waren die Petrochemie und das Automobil. Sie brachten den
Massenverkehr auf der Straße und in der Luft, zugleich markierten sie den Höhepunkt
der Industriegesellschaft.
Derzeit befinden wir uns in einem Kondratieff-Zyklus, der seine Antriebsenergie aus der
Verwertung der Basisinnovation Informationstechnik bezieht. Er markiert die
Entstehung der Informationsgesellschaft und den Übergang in eine Phase des
Strukturwandels, die nicht mehr von Rohstoffen und Energieverbrauch, sondern vom
produktiven und kreativen Umgang mit Informationen bestimmt wird.
Die Aufschwungphase des fünften Kondratieff geht (zunächst für Europa und Japan) mit
den 90er Jahren zu Ende. Die Statistik spricht eine eindeutige Sprache: Lagen die
Wachstumsraten der Informationstechnik in den 60er und 70er Jahren oberhalb von 16
Prozent und in den 80er Jahren bei 12 Prozent, so sind sie im Zeitraum 1990 bis 1996
unter 8 Prozent gefallen. Falls die Weichen jetzt nicht konsequent auf den nächsten, den
sechsten Zyklus, ausgerichtet werden, dann kann in den nächsten Jahren nicht mit einer
nachhaltigen Verbesserung der wirtschaftlichen Lage gerechnet werden. Was läßt sich
heute über den nächsten Langzyklus sagen? Durch welche Basisinnovationen wird er
ausgelöst und getragen werden?
Die neuen Lokomotiven: Umwelt und Gesundheit
Eines der Segmente mit den größten Rationalisierungsreserven ist der Umweltbereich.
Die Produktivitätsreserven des Umweltsektors sind beträchtlich, allein die schon heute
möglichen Einsparungen werden für die USA auf 1000 Milliarden US-Dollar pro Jahr,
weltweit auf über 2500 Milliarden US-Dollar jährlich geschätzt. In Deutschland arbeiten
in diesem Bereich inzwischen genauso viele Menschen wie in der Automobilindustrie -
bei einem Viertel des Umsatzes. Dieser Markt bietet genau jene arbeitsintensiven
Arbeitsplätze, die wir dringend brauchen.
Ein zweites Segment mit großen Rationalisierungsreserven bildet der Gesundheitssektor.
Seelische, soziale und körperliche Gesundheit ist Voraussetzung für die Entfaltung
produktiver Kräfte wie Kreativität, Motivation, Leistung, Lern- und Einsatzbereitschaft.
Der Schlüsselbegriff zur Erschließung des Humankapitals heißt Gesundheit: ganzheitlich
verstanden, also körperlich, sozial und seelisch. Sie ist nicht nur ein riesiger Markt, sie
ist auch Voraussetzung für das, was mit dem Begriff "psychosoziale Kompetenz"
gemeint ist.
Kondratieff-Zyklen sind nicht nur Innovationsschübe, sie sind auch
Produktivitätsschübe. Die Suche nach Produktivitätsreserven in unserer Zeit führt zum
Gesundheitssektor. Hier lagern die Reserven, die im produktiven Bereich dringend
benötigt werden und die durch psychosoziale Kompetenz erschlossen werden können.
Sicher wäre es eine Illusion, zu glauben, man könnte alle destruktiven Verhaltensweisen
aus der Welt verbannen. Zwischen Illusion und Resignation besteht jedoch ein breites
Spektrum an Handlungsoptionen.
Westeuropa betritt die neue Arena mit einigen guten Voraussetzungen: hoher Stand der
Medizin- und Umwelttechnik, gut ausgebaute Gesundheitsinfrastruktur (Kurbetriebe,
Krankenhäuser, Sanatorien, Handel, Forschungseinrichtungen), gut entwickelte
Nachfrage nach ökologischen Produkten, vor allem aber eine bereits hoch entwickelte
Sensibilität für Gesundheit im ganzheitlichen Sinn. Der sechste Kondratieff wird
kommen und er wird ein Gesundheits-Kondratieff sein. Der Motor dieses Langzyklus
kann schon heute ziemlich genau angegeben werden: psychosoziale Kompetenz. Die
Frage ist nicht, ob er realisiert werden kann, sondern welche Firmen, Länder und
Regionen ihn gestalten und wer am meisten von seiner Antriebskraft profitieren werden.
PZ-Titelbeitrag von Leo A. Nefiodow , Sankt Augustin
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