Titel
Die HI-Viren gehören zu den Retroviren, die ihre genetische Information
in Form von RNA verpacken. Nachdem das Virus in eine Zelle
eingedrungen ist, wird die RNA mit Hilfe eines "mitgebrachten" Enzyms,
der Reversen Transkriptase, in DNA umgeschrieben und diese in das
Genom der Wirtszelle integriert. Dieser Prozeß ist nicht reversibel. Die
infizierte Zelle trägt lebenslang die virale genetische Information. Doch eine
Zelle lebt nicht unbegrenzt. Darauf stützen sich die Hoffnungen der
modernen antiviralen Therapie. Die HIV-Infektion scheint heute
behandelbar und theoretisch sogar heilbar.
Die Forschung nach effektiven Behandlungsstrategien der HIV-Infektion ist extrem
rational und beruht auf den Kenntnissen der Pathogenitätsmechanismen.
Im Cytoplasma wird die RNA, katalysiert durch die Reverse Transkriptase, in zwei
Schritten in DNA umgeschrieben. Neben der Reversen Transkriptase ist dazu ein
weiteres Enzym, die RNase H, erforderlich. Die Spezifität dieser RNase zeichnet
sich dadurch aus, daß sie RNA hydrolysiert, die mit einem DNA-Strang eine
Heteroduplex bildet. Erst dieser Schritt ermöglicht die Synthese des zweiten
DNA-Stranges.
Ein primäres und wichtiges Ziel einer medikamentösen Intervention ist die Inhibition
der Reversen Transkriptase. Hier haben sich verschiedene Mechanismen
durchgesetzt. Das bekannteste Prinzip ist die Inhibition der Reversen Transkriptase
durch Kettenabbruch-Nukleotide. Eingesetzt werden Zidovudin, Zalcitabin,
Didanosin, Stavudin und Lamivudin. Ende 1998 erhält voraussichtlich der Wirkstoff
Abacavir, ein karbozyklisches Nukleosidanalogon, in den USA die Zulassung.
Alle diese Moleküle sind Prodrugs, die um als Substrate von der Reversen
Transkriptase in die cDNA eingebaut zu werden zunächst zu den entsprechenden
5-Triphosphaten phosphoryliert werden müssen. Es sind aber nicht nur
Kettenabbruchsubstrate, die nach ihrem Einbau eine Kettenverlängerung verhindern.
Sie sind auch kompetitive Inhibitoren der Reversen Transkriptase. Dies erklärt,
weshalb die RT-Inhibitoren wirklich sehr effektive Wirkstoffe sind.
Eine neuere Stoffklasse, die das gleiche Zielmolekül ansteuert, sind die
nicht-nukleosidischen Inhibitoren der Reversen Transkriptase. Die NNRTIs sind
nicht-kompetitive Inhibitoren. Sie hemmen das Enzym an einer anderen Stelle als die
Nukleosidanaloga, so daß Kreuzresistenzen unwahrscheinlich sind. Hier sind zur
Zeit drei Substanzen verfügbar: Nevirapin, Delavirdin und Efavirenz
.
Noch in der Entwicklung sind Hemmstoffe der RNase H und der Integrase. Beide
Enzyme sind typisch retroviral. Eine normale Zelle benötigt diese nicht. Daher sollten
Hemmstoffe ähnlich wie bestimmte Antibiotika relativ nebenwirkungsarm sein.
Außerdem würden derartige Stoffe das Verschmelzen des retroviralen Genoms mit
dem Genom der Zelle verhindern.
Die doppelsträngige DNA-Kopie der viralen RNA gelangt dann in den Zellkern und
wird ins Genom der infizierten Zelle integriert. Mit Hilfe spezifischer
Kontrollproteine, die auf der integrierten viralen DNA kodiert sind, wird nun massiv
die genetische Information abgerufen. Dabei werden zunächst nur kleine, gespleißte
mRNAs in das Cytoplasma entlassen, die an den Ribosomen zu den
Regulatorproteinen Nef, Tat und Rev übersetzt werden. Tat sorgt im Zellkern für
eine starke Transkription der viralen DNA. Die Funktion von Nef ist noch nicht
genau bekannt, obwohl man weiß, daß durch Nef ein hoher Infektionsgrad
aufrechterhalten wird. Wenn Rev im Zellkern akkumuliert, wird nicht mehr die
kleine, gespleißte mRNA ins Cytoplasma transportiert, sondern das komplette virale
RNA-Genom gelangt ins Cytoplasma, um zu neuen Viren verpackt zu werden.
Auch hier befindet sich die Wirkstofforschung noch im Experimentierstadium.
Die virale RNA dient nur zum Teil als genomische RNA. Ein anderer Teil dient als
mRNA, die an den Ribosomen zu einem großen Vorläuferprotein translatiert wird,
auf dem die Komponenten der viralen Hülle enthalten sind. Daher muß das gebildete
"Fusionsprotein" durch eine spezielle Protease in funktionsfähige Bruchstücke zerlegt
werden. Auch dieses Enzym wird von der viralen RNA kodiert. Erhebliche
Therapiefortschritte wurden durch die Entwicklung von Hemmstoffen dieser
retroviralen Protease erzielt, die ein Schlüsselenzym beim Heranreifen neuer Viren
darstellt. Gelingt es, die virale Protease zu inhibieren, können keine infektiösen Viren
gebildet werden. Derzeit sind vier HIV-Protease-Inhibitoren zugelassen: Indinavir,
Ritonavir, Saquinavir und Nelfinavir. Im Jahre 1999 wird in den USA vermutlich der
Wirkstoff Amprenavir (141W94; VX-478) zugelassen.
Die Protease-Inhibitoren sind aus zwei Gründen bemerkenswert. Zum einen wurden
diese Wirkstoffe wie keine andere Wirkstoffgruppe bisher unter Mithilfe von
Computern entwickelt, denn von Beginn an war die exakte Struktur der
HIV-Protease verfügbar. Zum anderen handelt es sich um sogenannte
Peptidomimetika, also Moleküle, die stark verfremdete Peptide darstellen, deren
Vorbilder als Substrate und damit auch als Inhibitoren in die Tasche des aktiven
Zentrums der HIV-Protease hineingelegt wurden. Dank der Protease-Inhibitoren
scheint es möglich, eine HIV-Infektion auskurieren zu können. Das wissenschaftliche
Magazin Science hat die neuen Strategien der HIV-Therapie zum Fortschritt des
Jahres 1996 gekürt.
Nachdem sich im Cytoplasma wieder Viruskapside mit je zwei Molekülen viraler
RNA gebildet haben, knospen die Viren aus, indem sie sich mit einem Teil der
zellulären Cytoplasmamembran umgeben. Diese Viren können nun neue Zellen
infizieren. Schließlich wird daran gearbeitet, die Dimerisierung der viralen RNA vor
der Verpackung, die Virusverpackung und die -knospung zu inhibieren. Aber auch
hier sind die Forschungen noch deutlich vor der Einführung von Wirkstoffen in die
Klinik.
Von der Infektion bis zu Aids
Die HIV-Krankheit verläuft in drei Phasen. In den ersten Wochen nach der
Infektion disseminiert das Virus rasch in die lympathischen Gewebe. Es entwickelt
sich eine ausgeprägt Virämie. Klinisch zeigen zahlreiche Patienten die unspezifischen
Symptome einer akuten HIV-Infektion. Nahezu zeitgleich mit dem Auftreten von
Antikörpern sinkt die Menge zirkulierender Viren etwa um den Faktor 100. Die
Patienten sind klinisch asymptomatisch. Zwar sind Viren während dieser Zeit im
Serum oft nur in geringen Konzentrationen nachweisbar, dennoch ist dies kein
Zeichen viraler Inaktivität, sondern lediglich Ausdruck eines Gleichgewichts
zwischen entstehenden und vernichteten Viren. In der Tat werden täglich etwa 1010
kurzlebiger Viren gebildet, die eine Halbwertzeit von sechs Stunden bis zwei Tagen
haben. Auch die CD4-Lymphozyten entstehen und vergehen täglich zu Milliarden.
Die HIV-Infektion wird durch immer wieder neu gebildete CD4-Zellen unterhalten.
In der letzten Phase der HIV-Erkrankung sinkt die Zahl der CD4-Lymphozyten pro
Mikroliter Blut langsam, doch stetig ab. Nach einer klinischen Latenzzeit von im
Mittel zehn Jahren treten schließlich die ersten Aids-definierenden Erkrankungen auf.
Gleichzeitig hat sich meist eine ausgeprägte Virämie entwickelt.
Hit early and hit hard
Im letzten Jahr hat in der Therapie der HIV-Infektion ein Paradigmenwechsel
stattgefunden. Dieser kann an mehreren Tatsachen festgemacht werden:
- Die Monotherapie ist out!
- Eine Kombinationstherapie beinhaltet mindestens zwei Nukleosidanaloga.
Noch besser ist eine Tripeltherapie, wo zu den zwei Nukleosidanaloga noch
ein Protease-Inhibitor dazukommt.
- Die Therapie sollte möglichst früh und nicht erst nach Auftreten der ersten
Symptome begonnen werden. Das Motto heißt: »Hit early and hit hard!« Das
bedeutet, daß nicht nur möglichst früh mit der Therapie begonnen werden
soll, sondern daß auch von Beginn an mit hohen, effektiven Dosen therapiert
werden soll.
- Die Therapie sollte streng kontrolliert werden. Der wichtigste
Surrogatparameter ist die Viruslast. Das Ziel sollte es sein, die
Virusproduktion unter die Nachweisgrenze von 200 Kopien pro ml zu
drücken.
Der Nachweis der Viren ist heute der wichtigste Parameter zur Therapiekontrolle.
Erst in zweiter Linie sind die CD4-Zahlen relevant, denn dieser Parameter reagiert
für eine Kontrolle viel zu träge. Ein Ansprechen der Viruslast innerhalb von 14
Tagen erleichtert auch den Umgang mit den Patienten, die in einer symptomfreien
Zeit eher von der Notwendigkeit einer Therapie zu überzeugen sind, wenn sie den
Therapieverlauf beobachten können. Als Vergleich dient eine rasante Zugfahrt auf
einen Abgrund hin. Die CD4-Zellzahlen zeigen an, wie weit der Abgrund noch
entfernt ist; die Viruszahlen im Serum geben hingegen die Geschwindigkeit an, mit
der der Zug auf den Abgrund zurast. Es gilt, die Geschwindigkeit zu drosseln, um
möglichst weit entfernt vom Abgrund zu bleiben. Um die Progression der
Erkrankung abschätzen zu können, benötigt man beide Laborparameter. Die
Vorhersagekraft der CD4-Zellzahl liegt bei etwa 30 Prozent, die der Viruslast bei
70 Prozent und die der Kombination beider Parameter sogar bei 80 Prozent.
Klinische Studien mit einer Tripeltherapie aus Zidovudin, Zalcitabin und Ritonavir
haben gezeigt, daß die Viruslast im Serum über mindestens drei Jahre unter der
Nachweisgrenze gehalten werden kann. Das gibt in der Tat Anlaß zu riesiger
Hoffnung. Zwar kann man ein Virus aus einer infizierten Zelle nicht mehr eliminieren,
da es in deren Genom integriert wurde. Allerdings sind die meisten infizierten Zellen
nicht unsterblich. Hält man die Virusreplikation über einen ausreichend langen
Zeitraum effektiv in Schach, so sterben schließlich die infizierten Zellen in dem
Patienten aus. Das ist die Ratio hinter dem dramatischen Umdenken bei der
Behandlung einer HIV-Infektion.
Die Resistenzbildung versucht man durch Kombinationstherapie zu vermeiden.
Gegen die Tripeltherapie werden praktisch keine Resistenzen beobachtet. Da keines
der drei Therapeutika Kreuzresistenzen zueinander verursacht, erniedrigt sich die
Wahrscheinlichkeit, daß sich durch Fehler der Reversen Transkriptase eine
Resistenz entwickelt, von 1 x 10-4 bei der Monotherapie auf 1 x 10-12 bei der
Tripeltherapie. Aber die Therapie ist nicht einfach und verlangt die volle
Kooperation des Patienten. So muß der Wirkstoff Indinavir dreimal täglich im
nüchternen Zustand genommen werden, also zwei Stunden vor der folgenden und
mindestens eine Stunde nach der letzten Mahlzeit. Schließlich werden wohl nur
wenige von der neuen Therapie profitieren können, denn die Kosten sind immens:
Pro Patient fallen jährlich Kosten zwischen 30 000 und 50 000 DM für die
Medikamente (circa 20 000 DM) sowie die begleitenden Untersuchungen an.
Heute zeichnet sich immer mehr ab, daß eine HIV-Infektion behandelbar, vielleicht
sogar heilbar ist. Obwohl Aids in den Industrieländern eher ein Randproblem unter
den relevanten Krankheiten darstellt, hat sich der Forschungsaufwand gelohnt, denn
von den hier erarbeiteten Erkenntnissen werden auch die Therapien anderer
Erkrankungen profitieren.
PZ-Titelbeitrag von Theodor Dingermann, Frankfurt
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