Titel
Vor 36 Jahren kam in Deutschland die erste Pille auf den Markt. Von der
Idee eines wirksamen Verhütungsmittels in Form einer Tablette bis zum
marktreifen Produkt war es ein langer Weg.
Bereits 1901 beweist der Physiologe Ludwig Haberlandt, daß die Gabe von
Schwangerschaftshormonen aus dem Gelbkörper den Eisprung unterdrücken kann.
Damit ist die Idee zu einem hormonellen Verhütungsmittel in greifbare Nähe gerückt, bis
zu ihrer Umsetzung sollten allerdings noch viele Jahre vergehen.
In den frühen 30er Jahren isoliert Adolf Butenandt aus 50.000 Schweineovarien zehn
Milligramm kristallines Progesteron. An eine Produktion in großem Stil ist also noch
nicht zu denken. Um 1940, als es dem amerikanischen Chemiker Russel E. Marker
gelingt, mit 35 Gramm die bis dahin größte Menge Progesteron relativ preisgünstig aus
dem Urin von Schwangeren zu gewinnen, liegt der Preis noch bei 1000 Dollar pro
Gramm.
Unverdrossen arbeitet der von seinen Kollegen und der Industrie belächelte Marker an
einer Progesteronsynthese aus pflanzlichem Material. Auf eigene Faust begibt er sich
auf die Suche nach einem geeigneten Gewächs. In Mexiko findet er schließlich die
Yamswurzel, aus deren Inhaltsstoff Diosgenin ihm die Teilsynthese des Progesterons
gelingt. Der Preis für ein Gramm fällt auf zwei Dollar.
Noch immer ist die Zeit nicht reif für ein Mittel, das es der Frau erlaubt, sexuell aktiv zu
sein und trotzdem die Schwangerschaft wirksam zu verhindern. Zwar gibt es seit 1916
eine Geburtenkontrollbewegung in den USA, die Idee der Familienplanung setzt sich
jedoch nur langsam durch. Mächtigste Gegner damals wie heute sind Kirche, Tradition
und Unwissenheit. Dabei ist die Not der am Rande des Ruins dahin vegetierenden
Großfamilien eines der größten sozialen Probleme dieses Jahrhunderts. Die weltweite
Bevölkerungsexplosion und die wachsende Armut verlangen nach Lösungen, die über
den Ruf nach Enthaltsamkeit hinausgehen.
Zwei Frauen, die Aktivistin Margaret Sanger und die Millionärin Katharine
McCormick, beauftragen 1950 den Biologen Gregory G. Pincus mit der sofortigen
Entwicklung eines billigen und in der Anwendung einfachen Verhütungsmittels. Zwei
Millionen Dollar steckt McCormick in die Forschung. 1954 werden die ersten
Versuche mit Norethisteron an Frauen durchgeführt, das der Chemiker Carl Djerassi
1951 als Alternative zum oral nicht wirksamen Progesteron synthetisiert hatte und das
eine hundertmal stärkere Wirkung als dieses aufweist.
Die unerwünschten Wirkungen der ersten Pillengeneration - Übelkeit, Erbrechen,
Schwindel, Durchfall, Kopf- und Magenschmerzen - sind erheblich und stehen in
keinem Vergleich zu den heute bekannten Effekten. Der Gedanke, daß zuvor gesunde
Frauen fast täglich ein hochwirksames, aber schlecht verträgliches Medikament
einnehmen sollten, um eine Empfängnis zu verhüten, scheint absurd.
Die erste Anti-Baby-Pille wird 1957 unter dem Namen Enovid auf dem amerikanischen
Markt eingeführt. Vier Jahre später bringt der Berliner Pharmakonzern Schering sein
Produkt Anovlar in den Handel. Die deutsche Fassung ist schon erheblich verträglicher
und niedriger dosiert als ihre amerikanische Vorversion.
Trotzdem zögert in beiden Ländern die Industrie, bevor sie sich in diesem
Marktsegment engagiert. Noch 1964 wenden sich Ärzte und Professoren aus Ulm in
einer Denkschrift an das Bundesgesundheitsministerium. Sie prangern den Verfall von
Moral und Sitte an und fordern das Ministerium auf, die "Abtreibungsseuche" zu
beenden und die Werbung für alle Verhütungsmittel zu verbieten.
Trotz erheblicher Widerstände im konservativen Nachkriegsdeutschland setzt sich die
Pille im Lauf der 60er Jahre durch und wird zum Flaggschiff einer nach
Gleichberechtigung, Selbstverwirklichung und sexueller Freiheit strebenden Generation.
1970 nehmen in Deutschland etwa zwei Millionen Frauen die Pille.
Ab Mitte der 70er Jahre stagniert der Absatz des Verhütungsmittels. Die zu hoch
gesteckten, weit über die verhütende Wirkung hinausgehenden Erwartungen, die an die
Pille geknüpft werden, erfüllen sich nicht. Statt dessen mehren sich die Klagen über
unerwünschte Wirkungen des Medikaments. Je unerfreulicher der Sex, um so weniger
sind nun die Frauen bereit, weiter die Pille zu nehmen. Da einige Pillensorten zudem im
Verdacht stehen, die Libido der Frau sogar herabzusetzen, wird die neu gewonnene
sexuelle Freiheit bald als neue Form der Tyrannei umgedeutet.
Glücklicherweise können die einzunehmende Hormondosis und damit die
unerwünschten Wirkungen in den folgenden Jahren immer weiter verringert werden. Die
Akzeptanz ist wieder gewachsen. Die Pille scheint in den Augen ihrer Anwenderinnen
nur noch das leisten zu müssen, was sie soll und kann: die wirksame Verhütung einer
Schwangerschaft. Heute nehmen weltweit etwa 60 bis 80 Millionen Frauen die Pille. In
Deutschland nimmt sie etwa jede dritte Frau im gebährfähigen Alter.
PZ-Titelbeitrag von Gabriele Harth, Berlin; Ulrich Brunner, Eschborn,
und Sven Jonek, Bisigheim
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