Titel
Die Kontaktlinsen sind nicht nur zwei Stückchen Kunststoff, die das
Sehen verbessern. Sie sind Teil eines Netzwerkes physikalischer,
chemischer, physiologischer und mikrobiologischer Wechselwirkungen.
Kontaktlinsen wirken auf die Augen ein; die Augen wirken aber auch auf die
Linsen ein. Aus physiologischer Sicht stellen sie einen Streßfaktor für die
Hornhaut dar, und mikrobiologisch betrachtet, sind die Sehhilfen
Risikofaktor Nummer 1.
Das Risiko einer Infektion an Lidern, Horn- und Bindehaut liegt beim
Kontaktlinsenträger etwa viermal höher als beim Brillenträger; etwa 300mal häufiger
wird ein Hornhautgeschwür mit irreversiblen Schäden am Auge diagnostiziert. In
erster Linie sind es Fehler bei der täglichen Reinigung und Desinfektion der Linsen
sowie ein Überschreiten der begrenzten Tragezeit, die solche Komplikationen
auslösen. Eine penible Kontaktlinsenhygiene ist deshalb das A und O.
Harte und weiche Kontaktlinsen beeinflussen die Physiologie und Immunologie der
vorderen Augenabschnitte. Die chronische mechanische Irritation und der durch die
Linse hervorgerufene Sauerstoffmangel der Hornhaut führen zu feinsten
Epitheldefekten. Die Zellteilungsrate der epithelialen Basalzellen ist vermindert. Dies
verzögert die Wundheilung und lockert den normalerweise sehr starken Zellkontakt
zwischen den Epithelzellen; kurzum: ein idealer Ausgangspunkt für eine Infektion.
Sammelsurium für Ablagerungen
Das im Vergleich zu formstabilen Kontaktlinsen erhöhte Infektionsrisiko weicher
Linsen hängt zusammen mit der erhöhten Neigung, Ablagerungen auf der
Linsenoberfläche auszubilden. Die Wechselwirkung zwischen dem Tränenfilm und
einer weichen Linse beginnt bereits Sekunden nach dem Einsetzen. Der Tränenfilm
enthält mehrere Dutzend Proteine. Die Proteinrückstände dienen Bakterien als
Nährboden.
Eine bakterielle Infektion, die Augenärzte in letzter Zeit immer häufiger zu sehen
bekommen, ist die gigantopapilläre Konjunktivitis. Der Auslösemechanismus ist
immunologisch zu erklären. Ursache des Übels ist fatalerweise die Denaturierung der
Tränenproteine durch die Hygienemittel. Diese Veränderung macht die
Eiweißablagerungen immunologisch aktiv, sie entwickeln Antigencharakter und lösen
den Circulus vitiosus einer Antigen-Antikörperreaktion im vorderen Augenabschnitt
aus. Die Antikörper überschichten die Proteinablagerungen auf der
Linsenoberfläche, Bakterien können sich anheften. Die Papillen auf der Konjunktiva
schwellen massiv an. Ähnlicher Fall: Die durch die Enzymreinigung denaturierten
Proteinablagerungen begünstigen auch die Adsorption von organischen
Verbindungen wie das Konservierungsmittel Chlorhexidin. Diese
Protein-Hapten-Komplexe wirken wiederum als Antigene, die Immunreaktionen
induzieren. Trotzdem ist die Enzymreinigung unerläßlich bei der Kontaktlinsenpflege.
Lipide lagern sich an alle Kontaktlinsenmaterialien an, besonders ausgeprägt
allerdings an formstabile aus Silikon oder Fluorsilikon. Hydrophobe
Wechselwirkungen sind dafür verantwortlich. Bei Hydrogellinsen dürften
Proteinablagerungen, die die Oberfläche hydrophob machen, eine Rolle spielen.
Zwar enthält der Tränenfilm auch Lipide, aber die meisten Lipidablagerungen sind
exogener Natur. Meistens gelangen sie ans Auge durch Wimperntusche, Kajalstoffe
und Pflegecremes.
Sind Proteinablagerungen erst einmal auf der Linse, wächst die Wahrscheinlichkeit,
daß sich pathogene und opportunistische Bakterien und Pilze aufpfropfen. Die
bakterielle Kontamination erfolgt meistens im Kontaktlinsenbehälter. Die Innenseite
der Aufbewahrungsboxen hat sich als optimales Milieu für Mikroorganismen
entpuppt. Viele Bakterien bilden hier ungestört einen sogenannten Biofilm, der sie
selbst vor Desinfektionsmitteln und Antibiotika schützt. Der Biofilm ist eine raffinierte
Überlebensstrategie der Bakterien, mit der sie sich ein kleines Ökosystem schaffen.
Der Teufelskreis nimmt seinen Lauf, wenn Keime an Proteinablagerungen und
schleimigen Zellsekreten hängenbleiben. Elektrostatische Wechselwirkungen,
Van-der-Waals-Kräfte, Ladungsunterschiede und von den Mikroorganismen
gebildete Polysaccharide schaffen die Verbindung. Calciumionen stabilisieren diesen
Komplex. Die beteiligten Zellen verändern sich morphologisch. In der schleimigen
Hülle kommt es zu Zellteilungen, weitere Mikroorganismen werden angezogen.
Letztendlich ist eine nährstoffhaltige anionische Matrix aus mikrobiellen und
exogenen Makromolekülen entstanden, die Mikroorganismen als Einzelzellen und
Mikrokolonien enthält. Pseudomonas aeruginosa, Staphylokokken, Streptokokken
und Candida albicans sind keine Seltenheit.
Arzneimittel und Krankheiten trüben den Durchblick
Eine Arzneimitteleinnahme, egal ob lokal oder systemisch, beeinflußt den
Tragekomfort von Kontaktlinsen. Bei der Abgabe entsprechender Medikamente
sollte der Apotheker also darauf aufmerksam machen, daß eventuell
Unverträglichkeiten auftreten können. Nur darauf hinzuweisen, die Linsen aus den
Augen zu nehmen, wenn Ophthalmika eingeträufelt werden, reicht nicht.
Die Tränenproduktion wird neuronal und hormonell gesteuert. Potentielle Übeltäter,
die den Tränenfilm qualitativ und quantitativ verändern, sind deshalb vor allem
Hormone und Medikamente, die auf Sympathikus und Parasympathikus einwirken.
Arzneistoffe, die die Tränensekretion aufgrund ihrer anticholinergen Wirkung
hemmen, sind: Antihistaminika (Chlorphenamin, Terfenadin), Parasympatholytika
(Atropin, Scopolamin und Derivate), trizyklische Antidepressiva (Amitriptylin,
Clomipramin, Desipramin), Neuroleptika (Phenothiazine), außerdem
Acetylsalicylsäure, Diazepam, Phenobarbital und Isotretinoin. Arzneistoffe, die die
Tränenproduktion steigern, sind: Muskarinagonisten (Pilocarpin, Neostigmin,
Carbachol), Sympathomimetika (Adrenalin, Ephedrin), Antihypertonika (Reserpin,
Hydralazin, Diazoxid), Antibiotika (Nitrofurantoin, Sulfathiazol).
Medikamente verändern auch die Qualität der Tränenflüssigkeit. Für das
Beratungsgespräch relevant: Gut untersucht ist die Sekretion von Antibiotika und
Adrenalin in den Tränenfilm. ASS und Vitamin A werden gleichfalls von der
Tränendrüse sezerniert. ASS kann, wenn es im Tränenfilm enthalten ist, von
Hydrogellinsen absorbiert werden. Hornhautirritationen können die Folge sein. Bei
der Abgabe von ASS-haltigen Medikamenten sollte deshalb der Apotheker darauf
aufmerksam machen, daß es zur Unverträglichkeit der Linsen kommen kann.
Eventuell ist auf ein Paracetamol-haltiges Präparat auszuweichen.
Mit Corticoiden sind Nebenwirkungen am Auge verbunden, gleichgültig ob sie
topisch am Auge oder systemisch verabreicht werden. Sie verengen die Arteriolen.
Die vasokonstriktorische Wirkung von Noradrenalin wird potenziert: Die
Tränendrüse gibt weniger Sekret ab. Corticosteroide hemmen die Aktivität der
Adenylatcyclase, die für die Bildung von cAMP (zyklisches
Adenosinmonophosphat) sorgt. cAMP, der second messenger innerhalb der
Azinuszellen, setzt nach Aktivierung der Azinuszellen durch sympathische Agonisten
die Tränensekretion in Gang. Ein Mangel an cAMP bedeutet eine verminderte
Sekretionsrate.
Vielen schwangeren Frauen oder Frauen, die oral verhüten, machen trockene Augen
zu schaffen, obwohl sie bisher die Linsen beschwerdefrei toleriert haben. Estrogene
halten im Organismus Wasser zurück. In der Hornhaut kann beispielsweise soviel
Wasser eingelagert werden, daß sich Dicke und Radien ändern. Folge: eine
veränderte Brechkraft und Unverträglichkeitsreaktionen. In höheren Dosen wird
vermindert Wasser in den Tränendrüsen sezerniert. Außerdem hemmen die
Estrogene Talgdrüsen. Wegen der großen Ähnlichkeit von Meibomschen Drüsen
der Lidspalte und Talgdrüsen kann man davon ausgehen, daß auch die Produktion
des Meibomschen lipidartigen Sekrets durch Estrogene eingeschränkt wird. In der
Schwangerschaft und Stillphase können Pflegemittel oder künstliche Tränen
bedenkenlos weiter angewandt werden.
Für den Offizinalltag interessant ist die Tatsache, daß Erkältungskrankheiten häufig
von leichten Bindehautentzündungen begleitet werden. Linsen können eine
Konjunktivitis noch verstärken, deshalb sollte der Patient während eines grippalen
Infekts besser auf die Linsen verzichten. Durch den Anstieg der vorderen
Augentemperatur trocknet das hochhydrophile Linsenmaterial rascher aus, die Linse
wird starr und saugt sich fest. Dieses Phänomen wird als Tight-Lens-Syndrom
bezeichnet und ist der Beginn schwerer Reizerscheinungen.
Selbst bei banalen Symptomen wie Schnupfen oder einem Kratzen im Hals besteht
ein erhöhtes Risiko, sich eine Infektion an Lidern, Horn- oder Bindehaut zuzuziehen.
Gerade beim Einsetzen und Herausnehmen der Linsen gelangen Krankheitskeime
von den Händen ans Auge. Der Erreger von Hals-, Mandel-, Mittelohr- oder
Nasennebenhöhlenentzündungen, Streptokokkus pyogenes, kann leicht auf die
Augen übergreifen. Außerdem im Beratungsgespräch zu bedenken: Arzneistoffe mit
anticholinerger Nebenwirkung (Hemmung der Tränenproduktion) sind in vielen
Schnupfen-, Erkältungs- und Schmerzmitteln enthalten.
PZ Titelbeitrag von Elke Wolf, Oberursel
© 1997 GOVI-Verlag
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