Titel
Die Phlogistonhypothese war eine der epochalen Entwicklungsschritte in der
Geschichte der theoretischen Chemie und Pharmazie sowie der exakten
Naturwissenschaften überhaupt. Mit dieser Hypothese gelang es besser als
durch alle früheren übergreifenden theoretischen Konstrukte, die
Umwandlungsprozesse in der anorganischen Welt nach einem weitgehend
einheitlichen Gesichtspunkt zu erklären.
Die Phlogistontheorie dominierte die Chemie- und Pharmaziegeschichte des 18.
Jahrhunderts und regte zu zahlreichen weiteren Forschungen an. Seit den 1770er Jahren
wurde die Phlogistonlehre - insbesondere durch die Schriften von Antoine Laurent
Lavoisier (1743-1794)- quasi "vom Kopf auf die Füße" gestellt und damit gründlich
revidiert.
Die Grundzüge der Phlogistontheorie wurden im Jahre 1697 im dritten Band des
chemischen Hauptwerks von Georg Ernst Stahl unter dem Titel "Zymotechnia"
entwickelt und in den folgenden Schriften des Autors mehrfach ergänzt und modifiziert.
Stahl wurde am 21. Oktober 1659 in Ansbach geboren und entwickelte bereits als
Jugendlicher ein großes Interesse für die Chemie, die damals aber noch nicht als
selbständiges akademisches Studium betrieben werden konnte. Daher studierte Stahl
zunächst in Jena Medizin, wobei er stark von den iatrochemischen Konzepten seines
maßgeblichen Lehrers Georg Wolfgang Wedel (1645-1721) geprägt wurde. Kurz nach
seiner Promotion (1684) konnte sich Stahl eigenständigen Vorstellungen widmen und
Vorlesungen über theoretische, pharmakologische und chemische Aspekte der Medizin
halten. Neben seinem Lehrer Wedel wurde insbesondere die langjährige Freundschaft
mit Friedrich Hoffmann (1660-1742) für Stahls Lebenswerk bedeutsam. Beide galten
schon in jungen Jahren als die herausragenden Begabungen der sich reformierenden
Medizin.
In seinem Frühwerk "Disputatio de passionibus animi" (1684) gab Stahl eine spezifische
Definition der "Anima" und schuf damit den wichtigen Begriff und ein Pionierwerk der
medizinischen Psychologie, dessen Gedanken später in seiner "Theoria medicina vera"
(1707) weitergeführt wurden. Theoretisch und systematisch hochbegabt, kam er
schließlich zu der Einschätzung, daß man die Lebensvorgänge in den Organismen und
insbesondere beim Menschen nicht nur auf rein chemisch-physikalischem Wege
erklären könne, sondern hierfür eine eigenständige Kraft, eben die Anima, annehmen
müsse.
Stahl war gleichermaßen als Mediziner, naturwissenschaftlicher Theoretiker und als
Chemiker hervorragend und gehörte zu den ideenreichsten Persönlichkeiten der
Medizin und Naturwissenschaften des Barocks. In seiner Phlogistonlehre ging er von
den Konzepten des Iatromechanikers Johann Joachim Becher (1635-1682) aus, der in
seiner Lehre von den "drei Erden" bereits eine gewisse Vereinheitlichung der Stoff- und
Formenlehre anstrebte. Nach Stahls Hypothese ist jeder Stoff nur dann und nur so
lange brennbar, wie dieser Phlogiston enthält. Alle brennbaren Stoffe sind nach Stahl
zusammengesetzt aus einem unbrennbaren Grundstoff und dem Phlogiston. Metalle
entstehen demnach durch eine Verbindung der Metallkalke (heute: Metalloxide) mit
dem Phlogiston. Somit sah Stahl in den Oxiden die elementaren Stoffe, in den später als
elementar erkannten Metallen hingegen die zusammengesetzten Stoffe. Stahl behauptete
als überaus methoden- und selbstkritischer Forscher allerdings nicht, das Phlogiston
substantiell charakterisiert zu haben.
Es kam ihm vorrangig darauf an, ein einheitliches theoretisches System der Chemie
aufzustellen, mithin die "Gleichartigkeit in den Erscheinungen zusammenfassend zu
behandeln". Stahls System steht am Beginn vieler Entwicklungslinien, sowohl der
Auffindung und Definition der chemischen Elemente wie auch der
chemisch-pharmazeutischen Analytik und der theoretischen Chemie. Erst den
pneumatischen Chemikern gelang es, den Sauerstoff als Element zu erkennen und zu
definieren.
Noch die Pioniere der Gaschemie waren von der Phlogistontheorie ausgegangen und
versuchten diese zu beweisen oder zumindest zu verbessern. Erst nach der Entdeckung
des Sauerstoffs durch Karl Wilhelm Scheele (1742-1786) und Joseph Priestley
(1733-1804) und die theoretischen Konzepte von Antoine Lavoisier wurde die
Phlogistontheorie nach und nach von der neuen auf Lavoisier zurückgehenden
antiphlogistischen Theorie abgelöst.
Stahl veröffentlichte nach seiner "Zymotechnia" (1697) noch weitere Werke zur
Chemie. 1716 wurde er vom König Friedrich Wilhelm I. nach Berlin berufen, wo er
noch für fast zwei Jahrzehnte bis zu seinem Tode am 14. Mai 1734 als
hochangesehener Leibarzt des Monarchen wirkte. Seine Phlogistonlehre ist bis heute
nicht nur von wissenschaftshistorischem, sondern ebenfalls von
wissenschaftstheoretischem Interesse, wie auch moderne Wissenschaftstheoretiker
(zum Beispiel Kuhn/ Popper) ausgeführt haben.
PZ-Titelbeitrag von Franz Kohl, Freiburg
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