Titel
Die Acetylsalicylsäure (ASS) ist weltweit eines der meist verordneten und
damit sowohl medizinisch als auch wirtschaftlich erfolgreichsten Pharmaka
unseres Jahrhunderts. Wenngleich die ASS in zahlreichen Handelspräparaten
verschiedener Hersteller vorliegt, kann das Orginalpräparat mit dem
Warennamen Aspirin® für sich in Anspruch nehmen, eines der erfolgreichsten
Arzneimittel aller Zeiten zu sein, das den Namen "Jahrhundertpharmakon" in
mehrfacher Hinsicht verdient.
Am 10. August 1997 jährt sich die Reinsynthese der Acetylsalicylsäure zum 100. Mal.
Dies ist durch ein noch vorhandenes Firmenprotokoll der Bayer AG gut belegt. Die
damalige Laborleistung von Felix Hoffmann (1868-1946) sollte nicht nur für die Firma
Bayer, sondern für weite Teile der chemisch-pharmazeutischen Industrie zu einem
Meilenstein werden. In verschiedenen galenischen Zubereitungen und unter vielfältigen
Bezeichnungen ist die ASS bis heute ein aktuelles Arzneimittel geblieben, dessen
Indikationsfeld sich seit der Markteinführung ständig erweitert hat. Sie wird inzwischen
keineswegs nur als Antipyretikum und Analgetikum, sondern auch als Antirheumatikum
sowie zur Prophylaxe von Herz- und Gefäßkrankheiten eingesetzt.
Bei der Synthese der ASS liefen verschiedene historische Entwicklungsstränge
zusammen, die erst in ihrer Bündelung die pharmazeutische Chemie zu einer industriell,
medizinisch, ökonomisch und gesamtgesellschaftlich anerkannten Institution werden
ließen. Voraussetzungen für die spätere Laborleistung Hoffmanns waren nicht nur die
Grundlegung der chemischen Analytik, der Ausbau der chemischen Struktur- und
Bindungstheorie, die darauf aufbauende synthetische und Farbstoffchemie, sondern
ebenso das Bedürfnis von Medizin und Pharmazie nach chemisch eindeutig definierten
und routinemäßig verfügbaren Substanzen. Die Epoche der synthetischen Antipyretika
und Analgetika begann dann in den späten 80er Jahren des 19. Jahrhunderts. Dem
zunächst eingeführten Phenacatin der Firma Hoechst (1887) war bereits 1883 das von
Ludwig Knoll (1859-1921) synthetisierte Phenazon vorausgegangen. Bei der Firma
Bayer arbeitete man an der Synthese des Sulfonal (1886). 1889 folgten mit dem
Tetronal und 1890 mit dem noch wirksameren Trional zwei weitere patentfähige
Hypnotika.
Auch der eigentlichen Reindarstellung der ASS war ein längerer pharmazeutisch
chemischer Weg vorausgegangen. 1828 wurde aus der Rinde der Salweide (Salix alba)
vom Münchner Pharmazeuten Johann Andreas Buchner (1783-1852) als erster
Wirkstoff das Salicin isoliert, das gegen fieberhafte Zustände eingesetzt wurde und für
Jahrzehnte eine "Konkurrenz" für das marktbeherrschende Chinin darstellte. Bereits
1839 hatte Raffaele Piria (1814-1865) die Salicylsäure als Bestandteil des Salicins
nachweisen können. Nach verschiedenen Extrahierungsversuchen konnte im Jahre
1869 Hermann Kolbe (1818-1884) nicht nur die chemische Struktur der Salicylsäure
aufklären, sondern die Substanz auch erstmals vollsynthetisch herstellen. 1874
entwickelte sein Schüler von Hayden die Technologie zu ihrer großtechnischen
Produktion, und wenig später folgten ärztliche Empfehlungen der Salicylsäure als
Antipyretikum und Antirheumatikum.
Dabei machte sich aber die schlechte Verträglichkeit der Salicylsäure häufig negativ
bemerkbar. Diese Tatsache wurde zum Ausgangspunkt für verschiedene Forscher,
nach erträglicheren Präparaten zu suchen. Schon Charles Gerhard (1816-1856) hatte
sich um eine Acetylierung der Salicylsäure bemüht, war aber nur zu einer recht unreinen
Präparation gelangt, die in der Medizin keine Verwendung fand. Ähnlich ging es
späteren Forschern, zuletzt 1869 dem Chemiker Karl Johann Kraut (1829-1912). Erst
mit der beschriebenen Leistung von Felix Hoffmann (1868-1946) gelang der wirkliche
Durchbruch zur Reinsynthese der ASS, über die einige Monate später der zunächst
skeptische Pharmakologe Heinrich Dreser (1860-1924) eine pharmakologische Studie
vorlegte. Ab 1898 führte Kurt Witthauer (1865-1911), Oberarzt einer Inneren
Abteilung das Diakonissen- Krankenhauses in Halle/ Saale, die klinischen Prüfungen
durch, die überraschend positive Ergebnisse als Analgetikum und Antirheumatikum
aufwiesen. 1899 wurde dann das Präparat unter dem Namen "Aspirin®" auf den Markt
gebracht: Der Beginn der oben skizzierten, äußerst erfolgreichen Entwicklung.
PZ-Titelbeitrag von Franz Kohl, Freiburg
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