Titel
Die Empfehlung zur Anwendung der Misteltherapie leitet sich aus dem
anthroposophischen Weltbild Rudolf Steiners ab. Sein komplexes
Lehrgebäude wird im allgemeinen Sprachgebrauch häufig auf die
Betrachtung einer Einheit von Körper und Geist reduziert, was ihm nicht
gerecht wird. Geleitet durch die Kraft seiner geschulten Intuition, war es
ihm nach eigenen Angaben möglich, die geistige Welt zu erfassen und mit
dieser Einsicht eine Erweiterung der Medizin zu formulieren.
So sehen seine Schüler auf der Basis seiner nicht revidierbaren Lehrsätze zum
Beispiel in der Tätigkeit ahrimanischer Wesen, ätherische Gesetzlichkeit, also
Wucherkräfte des alten Mondes, in den Ätherleib des Menschen während des
Schlafes hereinzutragen, Ursachen für Krankheiten. Aufgrund der esoterischen
Arzneimittellehre, die den Geist einer Substanz (Spiritualität) zum kausalen
Heilfaktor erklärt, hat Steiner der Mistel die Kapazität zugewiesen,
Monden-Erdenäther aufzusaugen und die Wirkung des Astralleibes auf die
Durchdringung des Ätherleibes zu verstärken.
Flankiert werden soll die Anwendung dieses Heilfaktors durch eine Reihe von
Begleitmaßnahmen zur Stärkung des Ätherleibes, deren Kenntnis für eine korrekte
Umsetzung der anthroposophischen Postulate notwendig ist. Da die Mehrzahl der
Mistelpräparate ihre fiktive Zulassung im gesetzlichen Sonderrahmen der
"Besonderen Therapierichtungen" dem Bezug zur anthroposophischen Menschen-
und Naturerkenntnis verdanken, ist es ein zwingendes Gebot für Apotheker, Ärzte
und Anbieter, diese Extrakte im Einklang mit der Lehre Steiners zu verabreichen und
den langwierigen anthroposophischen Schulungsweg zu durchlaufen. Ein Spagat
zwischen Anthroposophie und Naturwissenschaft ist nicht statthaft, weil
naturwissenschaftliche Grundsätze mit den anthroposophischen Dogmen
grundsätzlich unvereinbar sind.
Wird das publizierte Datenmaterial zur Mistelanwendung systematisch nach den
Grundregeln klinischer Forschung gesichtet und dann den Werbeaussagen von
Anbietern gegenübergestellt, so fällt in der wissenschaftlichen Bewertung eine
deutliche Diskrepanz auf. Kritische Analysen können die PR-mäßig weitgestreute
Sichtweise einer postulierten Wirksamkeit nicht teilen. Auffallend ist zudem ein
Mangel an Präzision und Qualität in vielen einschlägigen Berichten.
Beachtenswert ist in diesem Zusammenhang ferner die eilfertige Übertragung von
häufig anekdotischen Tierversuchsdaten auf den Menschen, ohne bezüglich der
Dosierung den offensichtlichen Gewichtsunterschied von Maus und Mensch zu
würdigen. Gleichfalls wird jeder in vitro meßbaren Wirkung eines Inhaltsstoffes
umgehend werbewirksam eine klinische Wirksamkeit zugesprochen. In dieser
Beziehung hat in den aktuellen Werbeaussagen besonders eines der beiden
Mistellektine breiten Raum erhalten.
In einem engen Dosisbereich von 1-2 ng/kg Körpergewicht induziert das
Galaktosid-spezifische Lektin der Mistel (Viscum album Agglutinin, VAA-I) die
Änderung einzelner Immunparameter sowie die Erhöhung der Serumspiegel
proinflammatorischer Zytokine. Diese Immunmodulation wird zumindest voreilig,
vielleicht leichtfertig mit klinischem Nutzen für den Patienten gleichgesetzt. Da es
bisher keine zwingenden Daten für ein Korrelation von zum Beispiel
CD4/CD8-Messungen zur klinischen Prognose von Tumorpatienten gibt, sehen
Onkologen hierin Äußerungen, die unberechtigt Hoffnung wecken. Daß die
lektinorientierte Mistelanwendung keine etablierte, sondern eine experimentelle
Therapie darstellt, unterstreicht ein weiterer Gesichtspunkt.
Nicht nur Immunzellen besitzen die Fähigkeit, auf Zytokine zu reagieren. Erhöhung
der Proliferation durch zum Beispiel Interleukin-6 ist für Leukämie- und
Lymphomzellen überzeugend in vitro und in vivo dokumentiert, so daß einzelne
Anbieter von Mistelpräparaten schon von deren Anwendung bei Hämoblastosen
abraten. Da jedoch auch Zellen solider Tumore proinflammatorische Zytokine als
parakrine Wachstumsfaktoren zu nutzen in der Lage sind, halten wir auf dieser
breiten Datenbasis die Anwendung dieser experimentellen Therapieform
ausschließlich in streng kontrollierten Studien für ratsam.
Zwei umfangreiche Tierstudien mit Lektinbehandlung nach chemischer
Karzinogenese belegen keinen klinischen günstig zu wertenden Einfluß, sondern
weisen für Einzeltiere eher auf einen negativen, statistisch jedoch nicht signifikanten
Einfluß (multifokale Tumorinzidenz, invasives Tumorwachstum) der lektinvermittelten
Immunmodulation. Im eigenen Interesse der Hersteller und als Ausdruck des
Patientenschutzes (primum non nocere) sollte die Evaluierung der möglichen
Ambivalenz der Wirkung lektininduzierter Zytokine nicht der allgemeinen
unkontrollierten Anwendung im laufenden Feldversuch, der aufgrund der
Sonderregelung für "Besondere Therapierichtungen" ausführbar ist, vorbehalten
bleiben. Die Möglichkeit der Privilegierung solcher Handelsprodukte in der
Bewertung des Risikobereiches sollte eingehend analysiert werden.
Bis aus einem Therapievorschlag ein zuverlässiges Instrument der
erfahrungsbezogenen, wissenschaftlich fundierten Medizin werden kann, ist ein
langer Weg zu durchschreiten. Wunschdenken, Lobbyarbeit oder opportunistische
Anpassung an eine (lancierte) Zeitgeistdefinition ersetzen nicht Fakten, die für die
fachliche Anerkennung notwendig sind.
PZ-Titelbeitrag von Sigrun Gabius, Rosenheim, und Hans-Joachim Gabius,
München
© 1997 GOVI-Verlag
E-Mail: redaktion@govi.de