Vergiftungen mit Pflanzen: Beratung und Hilfedurch den Apotheker (I) |
25.05.1998 00:00 Uhr |
Titel
Lebensrettende Sofortmaßnahmen
Jedermann ist bei Unfällen zur Hilfeleistung verpflichtet (§ 323c StGB).
Lebensrettende Sofortmaßnahmen sollten deshalb jedem vertraut sein. Vielfach sind
die Kenntnisse jedoch unzureichend. Um eine bestehende Lebensgefahr zu
erkennen, muß der Laienhelfer überprüfen, inwieweit Vitalfunktionen gestört oder
ausgefallen sind: Ist der Patient ansprechbar, bewußtseinsgetrübt oder bewußtlos?
Reagiert er auf äußere Reize (Ansprache, Rütteln et cetera)? Sofern die Atmung und
die Herz-Kreislauf-Funktion unbeeinträchtigt sind, müssen Bewußtseinsgetrübte
oder bewußtlose Patienten in stabile Seitenlage gebracht werden.
Um einen eventuellen Atemstillstand festzustellen muß auf ein Heben und Senken
des Brustkorbes geachtet werden. Der Ersthelfer kann aber auch einen Spiegel zu
Hilfe nehmen. Auch die Blaufärbung von Lippen, Ohrläppchen oder Fingerspitzen
deutet auf Atemstillstand hin. Atmet das Opfer nicht, ist zur Vermeidung eines
Herzstillstands und Hirntods eine Atemspende erforderlich.
Auch die Herz-Kreislauf-Funktionen müssen überprüft werden. Ist der Puls tastbar?
Wie ist seine Frequenz (Bradykardie, Tachykardie) und Qualität (regelmäßig,
Extrasystolen, schwach, nur herznah tastbar)? Ist die periphere Durchblutung normal
oder auffällig gestört (Blässe, Temperatur)? Bei Herzstillstand muß der Ersthelfer
zusätzlich zur Atemspende mit Herzdruckmassage die Blutzirkulation
aufrechterhalten.
Risikoabschätzung
Pflanzenvergiftungen mit lebensbedrohlicher Problematik sind erfreulicherweise
selten. Der Verdacht einer Ingestion giftiger oder giftverdächtiger Pflanzenteile ergibt
sich für Eltern oder Angehörige meist aufgrund von Beobachtungen, einer Befragung
des Betroffenen oder Dritter beziehungsweise aufgrund der einsetzenden
Symptomatik (Übelkeit, Bauchschmerzen, Müdigkeit et cetera). Um das bestehende
Risiko abschätzen zu können, müssen einige Fragen geklärt werden.
Zum Bestimmen von unbekanntem Pflanzenmaterial sind unterschiedliche
Vorgehensweisen möglich: Auf konservativem Weg wird man eines der für unser
Gebiet gebräuchlichen Bestimmungsbücher mit Schlüsseln verwenden. Grundsätzlich
unterscheidet man dabei dichotome und synoptische Schlüssel. Bei den weit
verbreiteten dichotomen Schlüsseln erfolgt die Pflanzenbestimmung mittels
Ja-Nein-Fragen. Empfehlenswerte Fachbücher sind Schmeil O., Fittchen, J.: Flora
von Deutschland und seinen angrenzenden Gebieten sowie Rothmaler, W.:
Exkursionsflora von Deutschland, Band II . Ersteres ist etwas kompakter, das Werk
von Rothmaler wird dafür durch einen dritten Band mit Strichzeichnungen ergänzt,
der die wichtigsten Merkmale hervorhebt.
Nachteilig ist, daß das Arbeiten mit einem Schlüssel bei der Bestimmung von
Giftpflanzen auch bei erfahrenen Benutzer lange dauert. Deshalb bietet sich hier die
Verwendung von Bestimmungsbüchern an, die keine Schlüssel sondern Abbildungen
enthalten. Mit Lauber & Wegner: Flora der Schweiz liegt für unser Gebiet ein
nahezu vollständiges Werk vor, das auch aufgrund seiner hervorragenden
Abbildungen uneingeschränkt empfohlen werden kann. Bei der
Giftpflanzenbestimmung sind ferner Bücher hilfreich, die vor allem Frucht- und
Blattmerkmale beschreiben. Sehr aussagekräftige Abbildungen enthält auch das
Giftpflanzenbuch von Frohne und Pfänder. Allerdings gilt hier, wie bei anderen
Fachbüchern, daß nur giftige Pflanzen abgebildet sind und bei Aufnahme ungiftiger
Gewächse das Material nicht identifiziert werden kann.
Liegt die fragliche Pflanze nicht vollständig vor oder sind die Pflanzenteile
beschädigt, ist eine mikroskopische Bestimmung nötig. Das Identifizieren von
Früchten anhand mikroskopischer Merkmale sollte geübt werden. Liegt kein
Pflanzenmaterial vor oder erfolgt die Beratung per Telefon, sollte der Apotheker
seine Fragen so stellen, daß auch der Laie antworten kann. Bei einer möglichen
Vergiftungen mit einer Frucht könnten deshalb folgenden Fragen gestellt werden:
Falls telefonisch keine eindeutige Bestimmung möglich ist, sollte der Apotheker
fragen, ob Personen in der Nähe sind, die über botanische Kenntnisse verfügen
(Gärtner, Biologen, Lehrer) und bei der Bestimmung behilflich sein könnten.
Giftnotruf und Notfallmeldung
Bundesweit werden 17 Giftinformationszentren unterhalten, die mit Ausnahme der
Einrichtung in Papenburg/Ems jeweils rund um die Uhr besetzt sind. Die
bundeseinheitliche Giftnotruf-Nummer Vorwahl/19240 wurde bislang in den
Bundesländern Baden-Württemberg (Freiburg), Bayern (München), Berlin und
Brandenburg (Berlin), Bremen, Hamburg, Schleswig Holstein und Niedersachsen
(Göttingen), Hessen und Rheinland-Pfalz (Mainz) sowie Saarland (Homburg/Saar)
eingerichtet. Mit individueller Nummer erreicht man die Giftinformationszentren in
Erfurt (zuständig für Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und
Thüringen), Bonn (zuständig für Nordrhein-Westfalen) sowie Berlin, Nürnberg,
Braunschweig, Bremen, Kassel, Kiel, Mönchengladbach, Münster, Nürnberg und
Papenburg.
Die momentanen Beschwerden des Patienten sollen möglichst genau geschildert
werden:
Die Giftinformationszentrale spricht auf der Grundlage der geschilderten
Sachverhalte Empfehlungen zu den erforderlichen Maßnahmen aus und bewertet
deren Dringlichkeit. Es kann erforderlich sein, den Patienten weiter zu beobachten
und bei einer Änderung der Situation erneut anzurufen. Mitunter bedarf es einer
weiteren Abklärung durch den Hausarzt. In dringenden Fällen muß umgehend der
Notarzt oder Rettungsdienst verständigt werden.
Auch die Notfallmeldung beim Rettungsdienst (örtliche Rettungsleitstelle: 19222,
Polizei: 110, Feuerwehr: 112) muß nach einem festen Meldeschema erfolgen, um
eine zügige, angemessene und effektive Hilfe zu gewährleisten. In Großstädten
werden die Rettungsdienste vielfach über die Einsatzzentralen der Berufsfeuerwehr
koordiniert.
Krankentransport
Von Bagatellfällen abgesehen, bei denen jegliche ernste Erkrankung oder mögliche
Komplikationen sicher ausgeschlossen werden können, sollte ein Krankentransport
grundsätzlich nicht im privaten Pkw oder in einem Taxi durchgeführt werden.
Gerade der bewußtlose oder bewußtseinsgetrübte Patient ist in erhöhtem Maße
gefährdet (Schleudertrauma, Aspiration). Bei plötzlich einsetzenden Komplikationen
kann nicht sachgerecht eingegriffen werden. Der Fahrer des Privat-Pkw kann
darüber hinaus für vermeidbare Folgen seines Handelns haftbar gemacht werden.
Resorptionsverhinderung und Antidote
Die Antidot-Therapie von Vergiftungen ist Sache des Arztes oder der behandelnden
Klinik. Außer Medizinalkohle als Suspension und der Gabe von reichlich Flüssigkeit
(keine Milch) ist eine Antidotgabe durch den Laienhelfer wegen der damit
verbundenen Risiken abzulehnen. Das gilt besonders für das früher propagierte
forcierte Erbrechen. Unter Beachtung der Gegenanzeigen (Bewußtlosigkeit,
Bewußtseinstrübung) sind solche Methoden nur dann zu vertreten, wenn der Notarzt
oder Rettungsdienst im Rahmen einer lebensbedrohlichen Intoxikation nicht schnell
genug kommen.
Ein universell einsetzbares und auch in Laienhand unbedenkliches Antidot ist
Aktivkohle. Sie dient als breit einsetzbares Adsorbens zur lokalen Entgiftung von
noch nicht resorbierten Arzneistoffen, Giften oder Chemikalien im
Magen-Darm-Trakt. Am besten werden undissoziierte Salze sowie schlecht
wasserlösliche Verbindungen adsorbiert. Bei ionogenen Arzneistoffen kann die
Bindung durch neutralisierende Zusätze verbessert werden (bei Vergiftungen mit
organischen Basen Neutralisation des Mageninhalts mit Magnesiumoxid). Durch die
Anhebung des Magen-pH sinkt die Löslichkeit von Schwermetallsalzen.
Eine wiederholte Anwendung von Aktivkohle ist sinnvoll, weil dann die Elimination
bereits resorbierter Giftstoffe beschleunigt werden kann. Beispielsweise bei Stoffen,
die einem enterohepatischem Kreislauf unterliegen, aus dem Blut in das Darmlumen
diffundieren oder aktiv sezerniert werden.
Aktivkohle wird nach peroraler Gabe nicht resorbiert und unterliegt keiner
Verstoffwechselung. Die Elimination erfolgt in unveränderter Form über die Faezes.
Zweckmäßigerweise werden fertige Aktivkohle-Suspensionen oder eine frisch
bereitete Suspension des Kohlepulvers eingesetzt. Der Wirkungsgrad von
Kohle-Compretten® ist dagegen deutlich schlechter. Darüber hinaus kostet die
ambulante Zubereitung einer Suspension aus Kohle-Compretten® viel Zeit und die
erforderlichen Dosierungen können kaum erreicht werden. Das Verhältnis von
Aktivkohle zu adsorbierendem Giftstoff sollte mindestens 10:1 betragen.
Die empfohlene Einzeldosis beträgt bei Erwachsenen 30 bis 100 g, bei Kindern
15-30 g (1-2 g pro Kilogramm Körpergewicht). Die Kohle soll als hinreichend
stark verdünnte Suspension (mindestens 250 ml pro 20 bis 30 g Kohle) angewandt
werden. Es gibt keine Maximaldosis. Die Einnahme muß in alle zwei bis sechs
Stunden wiederholt werden.
Unerwünschte Wirkungen
Wird Aktivkohle-haltiger Mageninhalt erbrochen und aspiriert, kann es zu einer
Aspirations-Pneumonie mit schwerer alveolärer Reizung, fortschreitender
respiratorischer Insuffizienz und in schweren Fällen zum Tod durch
Atemwegsobstruktion kommen. Das Risiko für diese Nebenwirkung ist nach
vorangegangener Verabfolgung eines Emetikums erhöht. Erbrechen ritt bei 10 bis 15
Prozent der mit Aktivkohle (beziehungsweise Aktivkohle plus Laxantien, Aktivkohle
plus Magenspülung) behandelten Patienten ein. Das Risiko ist bei Kindern erhöht,
wenn nach der Aktivkohle-Suspension große Mengen an Flüssigkeit zugeführt
werden.
Vorsichtsmaßnahmen und Risiken
Bei Vergiftungen mit Säuren, Laugen oder organischen Lösungsmitteln muß bedacht
werden, daß Aktivkohle Erbrechen auslösen kann. Viele anorganische Säuren oder
Laugen werden von Aktivkohle nur unzureichend adsorbiert. Eine endoskopische
Beurteilung von Läsionen im Bereich von Ösophagus, Magen und Darm wird durch
Kohle erschwert. Auch wenn keine entsprechenden Untersuchungen oder Berichte
vorliegen, gilt der Aktivkohle-Einsatz während der Schwangerschaft als sicher.
Nahrungsbestandteile können das Absorptionsvermögen von Aktivkohle
herabsetzen. Die gleichzeitige oder zeitversetzte Gabe salinischer (Natriumsulfat,
Magnesiumsulfat) oder osmotisch wirksamer Laxantien (Lactulose, Sorbitol) ist im
Sinne einer rascheren Dekorporierung adsorbierter Giftstoffe sinnvoll. Die
Wirksamkeit von Aktivkohle wird hierdurch in der Regel nur geringfügig vermindert.
Das Ausmaß der Interaktion ist aber abhängig von dem zu adsorbierenden
Fremdstoff (Warfarin: <1Prozent, Paracetamol: 8 bis 10 Prozent, Metoclopramid:
15 bis 30 Prozent).
Die gleichzeitige Gabe von Ipecac-Sirup und Aktivkohle ist nicht sinnvoll, da die
Alkaloide zum Teil adsorbiert und dadurch inaktiviert werden können. Zur
Darmspülung genutzte Stoffe wie PEG können an Aktivkohle adsorbierte Giftstoffe
kompetitiv verdrängen.
Detaillierte Informationen zu vergiftungsrelevanten Pflanzen lesen Sie im zweiten Teil
unserer Titelgeschichte in PZ 28.
PZ-Titelbeitrag von Markus Veit, Würzburg, Eric Martin, Marktheidenfeld
© 1997 GOVI-Verlag
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