Titel
Rund 30 000 Krankheiten sind heute bekannt, aber zur Zeit werden nur
100 bis 150 von ihnen in Forschungs- und Entwicklungsprojekten der
Pharmaindustrie und von Forschungsinstitutionen erforscht. Der Aufbau und
Einsatz neuer Instrumentarien und das Auffinden neuer Lösungen ist für die
nächsten Jahre unabdingbar erforderlich.
In den letzten 100 Jahren war die Wirkstoffindung in erster Linie dem reinen Zufall
überlassen. Man hat heute keine Zeit mehr, auf den Zufall zu warten. Die Spektren
der Krankheiten werden immer diffiziler und vielfältiger. Ein Beispiel ist die
Resistenzentwicklung. Es müssen daher schnelle und vor allem effektive Verfahren
der Wirkstoffindung eingesetzt beziehungsweise entwickelt werden. Der Erfolg in
der Medizinischen Chemie hängt in erster Linie von der zügigen Bereitstellung des
richtigen Targets durch Biochemiker und Molekularbiologen ab.
Mit den neu gewonnenen Kenntnissen und auf der Basis der qualitativen Kenntnis
der Wirkmechanismen von Arzneistoffen/Leitstrukturen werden heute in
interdisziplinärer Zusammenarbeit bereits beachtliche Erfolge verzeichnet. Die
allgemeine Grundlage für strukturspezifische Wirkstoffe stellt das altbekannte
Schlüssel-Schloß-Prinzip dar. Heute bedeutet das: Nur der elektronisch und
geometrisch passende Agonist/Antagonist führt zur Auslösung oder gezielten
Hemmung eines Rezeptor-Signals durch dreidimensionale Interaktion mit einer
spezifischen Rezeptor-Bindungsstelle. Letztendlich stellt das zentrale Designziel die
molekulare Erkennung in Biopolymer-Ligand-Komplexen dar.
Eine tragende Säule und letztendlich "der Start aller Dinge" des rationalen Designs
stellen Kristallstrukturanalysen von Protein- oder Nukleinsäure-Ligand-Komplexen
dar. Weite Instrumentarien zur Leitstruktursuche und Optimierung sind
Naturstoff-Isolation, Synthese, Kombinatorische Synthese,
Strukturaufklärungsmethoden, Molecular-Modelling (u. a. strukturbasiertes Design,
de novo-Design), Gentechnologie/Molekularbiologie und in vitro-, in
vivo-Testsyteme. Die Findung der Leitstruktur stützt sich heute auf natürliche
Vorbilder und endogene Naturstoffe, Anlehnung an Enzymsubstrate, Nachbildung
endogener Liganden (wie Modellsubstanzen für Übergangszustände) und auf das
Nebenwirkungsspektrum einer bereits in der Klinik erprobten Handelssubstanz.
Einen großen Stellenwert wird besonders die Parallele oder Kombinatorische
Synthese (PAROS, KOMBOS) zur raschen Wirkstoffindung in Verbindung mit
dem biologischen Massenscreening in Zukunft erhalten. Inzwischen sind diese
Entwicklungen auch mit rationalen Designtechniken verknüpft worden.
Ein ideales Beipiel des rationalen Wirkstoffdesigns unter Einsatz der aktuellen Tools
der Pharmaentwicklungen stellt die Gruppe der HIV-Proteasehemmer dar:
Protein-Kristallographien mit "Übergangszustands-Peptidomimetika" (u. a. mit
Pepstatin), kombinatorische und gezielte Synthesen, Molecular Modelling und der
biologische Assay bis hin zu den klinischen Prüfungen führten zu Saquinavir, lndinavir
und Ritonavir sowie zu weiteren Varianten. Inzwischen befinden sich neuartige
cyclische Harnstoff-Derivate (Siebenringsysteme) in der klinischen Testphase, die
gegenüber HIV-Mutanten äußerst resistent sind. Hohe Bindungskräfte am aktiven
Zentrum der HIV-Protease werden dafür verantwortlich germacht.
Die Gensubstanz ist bekanntlich das zentrale Target vieler Krebstherapeutika. In
diesem Zusammenhang hat unser Arbeitskreis eine neue Klasse von DNA-Liganden
(Biscarbazol-Derivate) entwickelt. Diese Verbindungen wurden in Anlehnung an die
antitumor-aktiven DNA-Rinnen-Binder und Leitsubstanzen Netropsin und
Distamycin A (Peptidomimetika) entwickelt (sogenannte Minor Groove Reading
Ligands).
Darüber hinaus konnten aufbauend auf die Alkaloid-Leitsubstanzen Staurosporin
und Rebeccamycin neue Proteinkinase C- (evtl. auch Protein-Tyrosin-Kinase-)
Hemmer als interessante antitumoraktive Verbindungen synthetisiert werden. Erst
durch den Einsatz der aktuellen Instrumentarien zur Wirkstoffindung in Kooperation
mit anderen Arbeitsgruppen wurden nun in unserer Arbeitsgruppe neue und
weiterführende Enzymliganden gefunden, die nun (wie üblich zur
pharmakokinetischen Optimierung) noch einer weiteren Molekülprofilierung
unterzogen werden müssen.
PZ-Titelbeitrag von Ulf Pindur
E-Mail: Pindur@mzdmza.zdv.uni-mainz.de
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