Titel
In physiologischen Systemen wie dem menschlichen Organismus herrscht
ein Gleichgewicht zwischen prooxidativen und antioxidativen Systemen.
Eine Imbalance zwischen beiden Systemen zugunsten der prooxidativen
Seite resultiert in sogenanntem oxidativen Streß. Es gilt als erwiesen, daß
oxidativer Streß bei einer Reihe von Erkrankungen und Symptomen als
ursächlicher oder häufiger als begleitender pathogenetischer Faktor eine
Rolle spielt. Bei all diesen Erkrankungen oder Symptomen sind es fast
immer die gleichen grundlegenden Reaktionen, die in entscheidendem
Maße zur Freisetzung freier Radikale, besonders von Sauerstoffradikalen,
beitragen.
Höchste Priorität kommt folgenden Radikalquellen zu: der mitochondrialen
Atmungskette, dem Purinabbau, dem Stoffwechsel der Katecholamine, weiteren
wichtigen Substratautoxidationen, der Detoxifikation von Xenobiotika,
Reaktionsschritten der neutrophilen Granulozyten, dem
Arachidonsäuremetabolismus und der Einwirkung von Strahlung, besonders von
UV-Strahlung, auf die Haut.
Die Atmungskette, die in fast allen Zelltypen des Menschen vorhanden ist, ist durch
einen permanenten "Leak" von Superoxidradikalen aus der Elektronentransportkette
der Mitochondrien gekennzeichnet. Zusammen mit dem Superoxid-Leak des
endoplasmatischen Retikulums (mikrosomaler Elektronentransport), dessen Anteil
vom Durchsatz durch das Cytochrom-P450-System abhängt, soll der
Superoxid-Leak der mitochondrialen Atmungskette circa 2 Prozent des
Gesamt-Sauerstoffverbrauchs betragen. Mit steigendem Sauerstoff-Partialdruck
kann sich der Anteil des Superoxid-Leaks in den Elektronentransportketten
beträchtlich erhöhen.
Die Xanthinoxidase als Enzym des Purinabbaus wird seit längerem als bedeutsame
Quelle für die Bildung von Sauerstoffradikalen in reperfundierten oder
reoxygenierten Geweben angesehen. Die Xanthinoxidoreduktase, die die
Umwandlung von Hypoxanthin zu Xanthin und nachfolgend auch von Xanthin zu
Harnsäure katalysiert, existiert in zwei Formen: einer Dehydrogenase-Form und
einer Oxidase-Form. Die Reaktionen der Oxidase-Form sind unmittelbar mit der
Umwandlung von Sauerstoff zu Superoxidradikalen oder Wasserstoffperoxid
verbunden. Entscheidend für einen möglichen Beitrag der Xanthinoxidoreduktase an
der Sauerstoff-Radikalbildung in einem Gewebe oder Organ ist die Aktivität des
Enzyms in diesem Gewebe oder Organ. Dabei sind nicht nur die eigentlichen
Parenchymzellen bedeutsam, sondern auch weitere in dem Gewebe oder Organ
existente Zelltypen, zum Beispiel Endothelzellen und Bindegewebszellen. Die
Kaskade des Abbaus intrazellulärer Purine wurde während und nach
Sauerstoffmangel in verschiedenen Geweben untersucht. Charakteristisch ist die
Akkumulation von Hypoxanthin während des Sauerstoffmangels als Ausgangspunkt
für die ROS (Reaktive Sauerstoffspezies)-Bildung bei erneuter Sauerstoffversorgung
des Gewebes (Reperfusion).
Die Autoxidationsreaktionen von Katecholaminen stellen eine weitere wichtige
endogene Quelle von Sauerstoff- und anderen Radikalen dar. Die Oxidation von
Adrenalin und Adrenalinanaloga ist aufgrund der vielen möglichen freien Radikale
und Metabolite, die durch die sequentiellen Ein-Elektronen-Oxidationen der
jeweiligen Verbindungen gebildet werden können, außergewöhnlich komplex. Unter
Bedingungen der vermehrten Katecholaminbildung und -ausschüttung werden die
Autoxidationsprozesse und die damit verbundene Bildung der verschiedenen
Radikalspezies eine noch weit größere Rolle als bei physiologischen
Konzentrationen spielen.
Eine Reihe von endogenen Verbindungen des menschlichen Körpers unterliegt
permanent Autoxidationsprozessen, bei denen Sauerstoffradikale freigesetzt werden
können. Deren quantitative Bedeutung hängt im wesentlichen von der Bildungsrate
und Konzentration solcher Verbindungen und dem sie umgebenden
Sauerstoff-Partialdruck ab. Von besonderer quantitativer Bedeutung ist die
Autoxidation von Hämoglobin. Die langsame Autoxidation von Monosacchariden
unter Sauerstoffaufnahme und Bildung reaktiver Sauerstoffspezies spielt
wahrscheinlich beim Auftreten höherer Glucosekonzentrationen eine Rolle
(Glucoxidation).
Arzneimittel und andere Xenobiotika, wie verschiedene Umweltnoxen, können auf
vielfältige Weise die Bildung und Beseitigung von freien Radikalen beeinflussen. Das
Cytochrom-P450-System wird als bedeutende Quelle für die Bildung von
Sauerstoffradikalen beim Einsatz zahlreicher Medikamente betrachtet. Ausgehend
von dem aktuellen Verbrauch an Pharmaka zur Behandlung vor allem chronischer
Erkrankungen wie arterielle Hypertonie, koronare Herzkrankheit, Erkrankungen des
rheumatischen Formenkreises und chronischer Schmerzzustände unterschiedlicher
Genese kann der Radikalbildung in Cytochrom-P450-abhängigen Reaktionen für
größere Gruppen der Bevölkerung Bedeutung beigemessen werden.
Die aktivierte NADPH-Oxidase der Membran von Phagozyten ist eine bedeutsame
Quelle freier Radikale. Wenn neutrophile Granulozyten und Makrophagen durch
inflammatorische Mediatoren stimuliert werden, kommt es zum sogenannten
respiratory burst. Da die Myeloperoxidase, ein lysosomales Enzym der neutrophilen
Granulozyten, in der Lage ist, die Bildung von unterchloriger Säure,
Singluett-Sauerstoff und langlebiger Chloramin-Verbindungen zu katalysieren,
können von diesen Produkten abgeleitete spezifische freie Radikale zusätzlich im
Gewebe entstehen. Untersuchungen zur Metabolisierung der Arachidonsäure über
die Cyclooxygenase und die Lipoxygenase zeigten, daß in oder ausgehend von
diesen Stoffwechselwegen Peroxy-Verbindungen und Hydroxylradikale gebildet
werden.
Daß ionisierende Strahlung, Röntgenstrahlen und kosmische Strahlung, aber auch
UV-Strahlung zur Radikalbildung in biologischen Geweben führt, ist seit langem
bekannt. Exposition gegenüber solchen Strahlen ist mit einem erhöhten Risiko
gesundheitlicher Schäden verbunden, wobei die Zellen der Haut primär betroffen
sind. Andererseits ist die medizinische Nutzung von UV-B- und UV-A-Strahlung
aus der Therapie von dermatologischen Erkrankungen nicht mehr wegzudenken,
zum Beispiel bei schweren Formen der Akne, bei der Psoriasis und bestimmten
Ekzemformen.
Die Effizienz der therapeutischen (und prophylaktischen) Beeinflussung der
Radikalbildung im menschlichen Organismus ist um so höher, je bedeutsamer die
Radikalquellen sind, die beeinflußt werden. Die pharmakologischen Strategien sind
deshalb in der Regel auf die genannten quantitativ wichtigsten Radikalquellen
ausgerichtet. Somit sind nicht nur Pharmaka mit Radikalfängereigenschaften gemeint,
sondern vor allem Pharmaka, die direkt oder indirekt die Radikalquellen
einschränken. Dazu gehören die Hemmstoffe des Purinendabbaus Allopurinol und
Oxipurinol, durchblutungsfördernde Pharmaka, die die Häufigkeit und Schwere von
Ischämie/Reperfusions-Episoden verringern sollen, Antiphlogistika, aber auch
Corticoide, die Einfluß auf die Neutrophilen-Aktivität haben, Hemmstoffe des
Arachidonsäure-Metabolismus oder Eisen/Metall-komplexierende Verbindungen.
Einige solcher Verbindungen haben zusätzlich radikalfangende Eigenschaften.
Eine pharmakologische Strategie besteht in der Vernichtung der ROS durch
Radikalfänger und Antioxidantien wie Vitamin C, Vitamin E oder SH-Donatoren
wie Glutathion oder Acetylcystein. Diese Substanzen werden mit präventivem oder
therapeutischem Ziel breit angewendet und zunehmend populärer. Eine deutliche
Neuroprotektion konnte in verschiedenen Modellen der cerebralen Ischämie mit
Dihydroliponsäure, einem endogenen Dithiol, nachgewiesen werden. Die
Anwendung des Pharmakons bei der diabetischen Polyneuropathie ist bekannt.
Ein großes, erst in geringem Maße genutztes Potential hinsichtlich radikalfangender
und antioxidativer Eigenschaften bieten auch natürliche Bestandteile von
Nahrungsmitteln und andere Naturstoffe.
Werner G. Siems, Bad Harzburg, Olaf Sommerburg, Heidelberg, Horst Mayer,
Berlin, und Tilman Grune, Berlin
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