Titel
Depressionen als umschriebenes Krankheitsbild sind viel häufiger als
allgemein angenommen. Etwa 20 bis 30 Prozent der Menschen über 60
Jahren sollen an einer Depression leiden. In der Psychopharmakologie
werden seit etwa 1950 antidepressiv wirksame Stoffe eingesetzt.
In den letzten Jahren ist das Spektrum breiter und differenzierter geworden: von den
Klassikern der trizyklischen Antidepressiva über die Tetrazyklika bis hin zu den
Wirkstoffen, die an verschiedenen Neurotransmittersystemen angreifen. Hierzu
zählen selektive Hemmstoffe der Serotonin- und der
Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahme (SSRI, SNRI), reversible selektive
Hemmstoffe der Monoaminoxidase-A (RIMA),noradrenerge-serotonerge sowie
duale serotonerge Antidepressiva. Arzt und Apotheker müssen umfassend informiert
sein über den richtigen Umgang mit diesen Arzneimitteln, um den Patienten
angemessen und kompetent begleiten zu können.
Depressionen nehmen zu und/oder werden häufiger erkannt. Vermutlich sind drei bis
fünf Prozent der Weltbevölkerung betroffen. In der Praxis des Allgemeinarztes
betrifft es fast jeden vierten, beim Nervenarzt nahezu die Hälfte und in
psychiatrischen Kliniken fast jeden achten Patienten. Auslösende Faktoren sind
Krankheiten, körperliche Versehrtheit, Verlust des Partners oder nachlassende
Stoffwechselaktivität im Gehirn. Oft genug bleibt die Ursache unbekannt.
Die therapeutischen Ansätze sind vielfältig: Verfahren der Psycho- und
Soziotherapie, physikalische Maßnahmen, körperliche und Entspannungsübungen,
Schlafentzug, Beschäftigungs- und Musiktherapie, Lichttherapie (bei saisonalen
Depressionen) und Elektrokrampfbehandlung. Daneben spielt die Pharmakotherapie
eine zentrale Rolle.
Ein Blick in die Umsatzstatistik des deutschen Marktes offenbart eine Überraschung.
An der Spitze steht heute ein pflanzliches Präparat auf der Basis eines hochdosierten
Extraktes von Johanniskraut, Hypericum perforatum. Die Pflanze enthält eine
Vielzahl komplexer Verbindungen unterschiedlicher chemischer Herkunft.
Hypericine werden seit langem als wirksamkeitsbestimmende Inhaltsstoffe
angesehen; neuerdings kommt Hyperforin in die Diskussion, das an allen
antidepressiv wirksamen Systemen gleich stark wirkt und die
Reuptake-Mechanismen hemmt. Nach heutigen Erkenntnissen wirkt Johanniskraut
bei 60 bis 70 Prozent der Patienten mit leichten bis mittelschweren Depressionen.
Hochdosierte standardisierte Präparate können daher und aufgrund der geringen bis
fehlenden Nebenwirkungen insbesondere bei ambulanten Patienten als
Antidepressivum der Wahl eingesetzt werden. Dosiert wird dreimal täglich 300 mg.
Die Wirkung tritt innerhalb von 10 bis 14 Tagen ein, vergleichbar mit anderen
Antidepressiva.
Ein Antidepressivum wird nach dem klinischen Erscheinungsbild ausgewählt und
einschleichend dosiert bis zur individuell anzupassenden Enddosis. Blutbild,
Leberwerte und Herzfunktion sollten regelmäßig kontrolliert werden. Die erwartete
Stimmungsaufhellung tritt allmählich ein, während Nebenwirkungen meist sofort
erlebt werden. Der Patient muß über die Wirklatenz informiert werden. Die
medikamentöse Behandlung dauert in der Regel mehrere Monate und damit oft
länger, als Patient und Angehörige wünschen. Die Dosis soll nach ärztlicher
Anweisung langsam reduziert und ausgeschlichen werden, um Absetzphänomene zu
vermeiden.
Häufig werden anticholinerge Nebenwirkungen beklagt wie Mundtrockenheit,
Akkomodationsstörungen, Miktionsbeschwerden, Obstipation oder Schwindel.
Potentielle Gefahren drohen auch von Wirkungen auf das Herz-Kreislauf-System
sowie von der Herabsetzung der Krampfschwelle im ZNS. Vor allem bei älteren
Patienten können Antidepressiva epileptogene Anfälle auslösen. Außerdem besitzen
die herkömmlichen Wirkstoffe eine geringe therapeutische Breite und können bereits
bei fünf- bis siebenfacher Überdosierung letal wirken. Solche Wirkstoffe zählen zu
den häufigsten Suizidmitteln depressiver Patienten.
Als Resümee von 45 Jahren Antidepressiva bleibt die Feststellung, daß hinsichtlich
der klinischen Globalwirksamkeit keine, bezüglich des differentiellen klinischen
Einsatzes und Wirkprofils gewisse und bezüglich des Nebenwirkungsprofils
deutliche Fortschritte erzielt wurden. Als positiv lassen sich die Reduktion der
Kardiotoxizität sowie der anticholinergen Begleitwirkungen nennen. Das Risiko
kognitiver Beeinträchtigung und die delirogene Potenz konnten ebenfalls gesenkt
werden. Trotz der Verträglichkeitsvorteile der neueren Antidepressiva muß mit
bislang unbekannten Nebenwirkungen und Risiken gerechnet werden.
PZ-Titelbeitrag von Victor Leutner, Grenzach-Wyhlen
© 1997 GOVI-Verlag
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