Titel
Man schätzt, daß in
Deutschland etwa 30 000 bis 40 000 Menschen pro Jahr an
einer schweren Lungenembolie sterben. Etwa fünfmal so
viele können zwar erfolgreich behandelt werden, doch
läßt sich aus den hohen Behandlungskosten und der
relativ hohen Inzidenz an Folgekomplikationen unschwer
ableiten, daß nicht nur die Maßnahmen zur
Thromboseprophylaxe und -therapie, sondern auch die
Durchführung einer rasch aussagekräftigen Diagnostik
aus sozialmedizinischer und volkswirtschaftlicher Sicht
dringend noch weiter vorangetrieben und optimiert werden
müssen. Da in etwa 90 Prozent der Fälle die
Emboliequellen in der unteren Hohlvene und den tiefen
Oberschenkelvenen zu finden sind, darf eine Lungenembolie
nicht als isoliertes Krankheitsbild gesehen werden.
Für Thromben im venösen Strombett ("weiße
Thromben") ist charakteristisch, daß starke
Störungen des Blutflusses und ein Überhandnehmen der
prokoagulatorischen Faktoren im Plasma ihre Entstehung
begünstigen, während die Intimaverletzung und
Thrombozytenaggregation, wie sie für arterielle Thromben
("rote Thromben") typisch sind, nur von
untergeordneter Bedeutung sind. Als besondere
individuelle Risikofaktoren, die die Entstehung venöser
Thrombosen begünstigen, gelten vor allem ein Alter über
40-50 Jahren, Häufigkeit in der Familienanamnese, Art
und Dauer des chirurgischen Eingriffs, zugrundeliegende
Erkrankungen, wie zum Beispiel Tumoren oder
Autoimmunerkrankungen, das Vorhandensein zentralvenöser
Katheter über längere Zeit, Gravidität und Zustand
nach Entbindung und vor allem genetische
Prädispositionen, wie das Faktor-V-Leiden. Die
Akuttherapie einer Lungenembolie oder tiefen
Beinvenenthrombose erfolgt risikoadaptiert und sieht als
Mittel der Wahl eine hochdosierte kontinuierliche
Infusion von Heparin vor. Um die therapeutisch
angestrebte partielle Thromboplastinzeit möglichst bald
zu erreichen, sollte die Heparindosierung
körpergewichtsbezogen nach Raschke erfolgen.
Die größte therapeutische Bedeutung im Rahmen der
Thromboseprophylaxe kommt derzeit dem Standardheparin
(unfraktioniertes Heparin = UFH), den niedermolekularen
Heparinen (LMWH), den Heparinoiden, dem Hirudin und den
Vitamin-K-Antagonisten zu.
UFH ist chemisch und biologisch keine einheitliche
Substanz, da es aus einem Gemisch von sulfatierten
Mucopolysacchariden mit verschiedenen Kettenlängen
besteht. Das mittlere durchschnittliche Molekulargewicht
wird mit 15 kDa (Streubereich: 8-25 kDa) angegeben. Seine
antithrombotische Wirkung beruht auf der Wechselwirkung
mit Antithrombin III, wodurch dessen Komplexbildung mit
den aktivierten Faktoren IIa und Xa um ein Vielfaches
verstärkt wird. Die Dosierung von UFH im Rahmen der
Thromboseprophylaxe erfolgt risikoadaptiert. Eine
klinisch sehr wichtige Nebenwirkung des UFH besteht in
der Senkung der Thrombozytenzahl. Während es bei der HIT
Typ I zu einer relativ unproblematischen Senkung der
Ausgangswerte um etwa 30% kommt, führt die HIT Typ II zu
Werten unter 50% des Ausgangswerts und gefährlichen
thromboembolischen Folgekomplikationen, da
heparininduzierte Antikörper immunologisch eine
disseminierte intravasale Koagulation auslösen können.
Bei den Anzeichen einer HIT Typ II ist die Therapie mit
UFH sofort abzubrechen und auf ein Heparinoid oder
rekombinantes Hirudin umzustellen. Die LMWH gewinnen in
der klinischen Praxis zunehmend gegenüber UFH an
Bedeutung, da sie eine Reihe pharmakokinetischer und
pharmakodynamischer Vorteile aufweisen. Die hohe absolute
Bioverfügbarkeit nach s.c.-Gabe, die Aktivierung des
tissue-factor-inhibitor-pathway (TFIP), die Möglichkeit
der täglichen Einmalgabe, teilweise signifikant
geringere Blutungskomplikationen, die geringere Inzidenz
der HIT Typ II und das reduzierte Risiko einer Osteopenie
stehen im Vergleich zum UFH dabei im Vordergrund. Da die
handelsüblichen LMWH allerdings nach unterschiedlichen
Verfahren aus UFH gewonnen werden, können generell die
Erfahrungen, die mit einem LMWH gemacht wurden, nicht
automatisch auf alle anderen Präparate übertragen
werden. Mit besonderem Interesse wird derzeit beobachtet,
inwieweit verschiedene LMWH-Präparate auch zur
Thrombosetherapie, z.B. der tiefen Beinvenenthrombose,
zugelassen werden, womit bei prädisponierten Patienten
mit Verdacht auf eine tiefe Beinvenenthrombose bereits zu
Hause ein Therapiebeginn möglich wäre und die
Weiterführung der Therapie kostengünstig ambulant
fortgeführt werden könnte. Unter den Heparinoiden
spielt vor allem das Danaparoid im Falle einer HIT Typ II
eine Rolle. Dasselbe gilt für das rekombinante Hirudin,
das chemisch zu den Peptiden zählt und somit im
Gegensatz zum Danaparoid auf keinen Fall zu einer
immunologischen Kreuzreaktion mit heparininduzierten
Antikörpern führen kann.
PZ-Titelbeitrag von Hans-Peter Lipp, Tübingen
Teil II dieses Beitrages stellt die oralen
Antikoagulantien vor und erscheint in PZ 19.
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