Titel
Richtschnur für die Selbstmedikation: Sobald Hautverfärbungen sichtbar
sind, ist die chronisch venöse Insuffizienz (CVI) für die Selbstmedikation
nicht mehr geeignet. Lediglich prophylaktische Maßnahmen, leichte
Stauungsbeschwerden und leichte Thombophlebitiden können unter
Beratung selbst behandelt werden. Die Therapie der Veneninsuffizienz fußt
auf physikalischen Maßnahmen, peroraler Arzneitherapie sowie der
Kompressionsbehandlung. Vermitteln Sie Ihren Patienten, daß es sich dabei
nicht um konkurierende, sondern um sich ergänzende Maßnahmen handelt.
Machen bereits Stauungsbeschwerden, müde und juckende Beine zu schaffen, ist
die Kompressionsbehandlung angezeigt. In Kombination mit Ödemprotektiva ist die
Kompressionstherapie die beste Methode, der venösen Stauung beizukommen. Ihr
Geheimnis ist der von außen auf die Venen wirkende, fein dosierte und der
individuellen körperlichen Beschaffenheit des Beines exakt angepaßte Druck. Er
preßt nicht nur die erweiterten Gefäße auf ein Fünftel bis ein Drittel ihres
Durchmessers zusammen, sondern gibt auch den Muskelpumpen ein festes
Widerlager. Wenn sich das Muskelsystem des Beins bei Bewegung ausdehnt, so
kann der Kompressionsverband oder -strumpf diese Bewegung nur geringfügig
mitmachen. Folge: eine starke Kompression. Wenn einige Augenblicke später der
Muskel erschlafft, gibt der Verband oder der Strumpf nach, der Druck sinkt auf
sehr niedrige Werte. Waren im Augenblick der starken Kompression die Kapillaren
abgequetscht, so daß ein Abfluß der interstitiellen Gewebsflüssigkeit nicht möglich
war, so werden bei niedrigem Kompressionsdruck die Kapillaren wieder
durchgängig. Nur der ständige rhythmische Wechsel zwischen hohem und niedrigem
Kompressionsdruck schwemmt das Ödem aus. Ohne Bewegung geht also gar
nichts. Der Compliance zuliebe sollten Sie diese Zusammenhänge Ihren Patienten
vermitteln.
Mehrere Untersuchungen verdeutlichen die Effektivität der
Kompressionsbehandlung. Eine randomisierte prospektive Studie mit 199
Probanden zeigt, daß ein Kompressionsstrumpf nach tiefer Beinvenenthrombose in
63 Prozent der Fälle ein postthrombotisches Syndrom verhindert. Auch die
Rezidivneigung nach einem abgeheilten Ulcus cruris wird günstig beeinflußt. Das
sagen zumindest zwei Studien aus den Jahren 1991 und 1996 aus, an denen 73
beziehungsweise 56 Probanden mitwirkten. In der 91er Studie lag die Rezidivrate
nach fünf Jahren bei 29 Prozent. Bei den Patienten ohne Kompression hatten alle
bereits nach 26 Monaten einen Rückfall. Die 96er Studie bestätigte diese
Ergebnisse, der Nachbeobachtungszeitraum betrug 28 Monate.
Compliance läßt zu wünschen übrig
Der Strumpf in der Schublade oder gelegentliches Tragen bringen gar nichts. Nach
Untersuchungen aus den 80er Jahren hadern besonders die Betroffenen mit ihrem
Strumpf, die ihn prophylaktisch tragen müßten. Einsichtiger zeigen sich dann schon
die Patienten, die ein Rezidiv verhindern wollen. Die Compliance ist also abhängig
vom Schweregrad der Erkrankung, von der Jahreszeit (Sommer) und der Art der
Therapie. Die Deutschen schmieren am liebsten: 77 Prozent hielten die topische
Therapie ein (Anmerkung: Angesichts dieser Therapietreue ist es bedauerlich, daß
es nur eine einzige Indikation für Topika gibt: Heparin bei Venenentzündungen).
Immerhin 67 Prozent akzeptieren die Medikamenteneinnahme, während nur 47
Prozent die Kompressionstherapie dauerhaft ernstnehmen. Hier liegt die Chance für
Ödemprotektiva, zumal klinische Studien nachweisen, daß die medikamentöse
Therapie mit Roßkastaniensamenextrakt (RKSE) oder Oxerutin der Kompression in
nichts nachsteht beziehungsweise aufgrund der höheren Akzeptanz sogar überlegen
ist.
So bescheinigen klinische Untersuchungen dem RKSE, daß er bei Patienten mit
CVI im Stadium I Ödeme ebenso zurückbildet wie eine Kompressionstherapie mit
Strümpfen der Klasse II. Beispielhaft wird häufig die Studie von C. Diehm,
Karlsbad-Langensteinbach, genannt, die 1996 als erste Ödemprotektia-Studie
überhaupt im Lancet veröffentlicht wurde. 240 Patienten wurden über zwölf
Wochen placebokontrolliert und doppelblind (Komressionsarm teilverblindet)
beobachtet. Um den Effekt zu optimieren, erhielten die Patienten vor Anpassen der
Strümpfe ein Diuretikum zur Entstauung. In der RKSE-Gruppe (2 x 50 mg /d) nahm
das Volumen um durchschnittlich 43,8 ml ab, unter Kompression um 46,7 ml,
während es in der Placebogruppe um fast 10 ml zunahm. Die Unterschiede zwischen
Verum und Placebo waren signifikant. Der nachgewiesene Effekt ist nur dann zu
erwarten, wenn RKSE als standardisierter, angereicherter Extrakt in ausreichender
Dosierung und geeigneter Galenik verabreicht wird.
Wirkstoffe erster Wahl sind RKSE und Oxerutin
Venentherapeutika gibt es viele; allerdings mehr Spreu als Weizen. Ihre Wirkung ist
entweder nicht bewiesen oder sie enthalten zwar wirksame Inhaltsstoffe, diese aber
in viel zu geringen Mengen. Laut Venen-Manual für Hausärzte '96 (Herausgeber:
Berufsverband der Allgemeinärzte Deutschlands) gibt es nur zwei Wirkstoffe mit
belegter Wirkung: Aescin aus Roßkastaniensamen und Oxerutine. Grundsätzlich sind
Kombinationspräparate kritisch zu betrachten. Zusätze von beispielsweise
Johannisbeersaft oder Vitaminen können rational nicht nachvollzogen werden.
Um Wirksamkeit und Verträglichkeit zu dokumentieren, sollte ein Präparat über eine
Positivmonographie der Kommission E des ehemaligen Bundesgesundheitsamtes
verfügen oder durch klinische Studien geprüft sein. Von den Ödemprotektiva
besitzen nur Roßkastaniensamen, Mäusedornwurzelstock und Steinkleekraut eine
positiv bewertete Monographie. Aber: Nur der Roßkastanie wird der Status einer
eigenständigen Therapie zuerkannt. Der Effekt von Mäusedorn und Steinklee wird
nur als "unterstützende Therapie" beschrieben. Was klinische Studien betrifft,
können laut Venen-Manual nur zwei Präparate (Venostasin®/Aescin und
Venoruton®/Oxerutin) auf moderne kontrollierte Studien verweisen, in denen
Wirksamkeitsparameter wie Ödemreduktion und Besserung subjektiver Symptome
mit validierter Meßmethodik geprüft wurden.
Roßkastaniensamen (Hippocastani semen)
Voraussetzung für die antiexsudative und ödemprotektive Wirkung von RKSE ist
der standardisierte Extrakt und die zweimal tägliche Dosis von 50 Milligramm
Aescin in retardierter Darreichungsform, so die aktuelle Monographie zu RKSE.
Standardisierter Trockenextrakt muß danach mindestens 16 und höchstens 20
Prozent Triterpenglykoside, berechnet als wasserfreies Aescin, enthalten. Aescin,
der Hauptwirkstoff, ist ein Saponingemisch vom Triterpenglykosidtyp. Die
Wirkungen des Gesamtextraktes entsprechen nicht denen von Aescin, weil außer
Aescin wohl noch andere Koeffektoren die Wirkung vermitteln. Als Saponin kann
Aescin den Magen reizen; deshalb empfiehlt sich die retardierte Variante.
Aescin verringert die bei CVI-Patienten bis zu 120 Prozent erhöhte Aktivität
lysosomaler Enzyme um etwa dreißig bis sechzig Prozent, so daß der Abbau von
Gerüstsubstanz im Kollagen der Venenwände gehemmt wird. Dadurch sinkt die
Gefäßpermeabilität und die Filtration von kleinmolekularen Proteinen, Elektrolyten
und Wasser in das Interstitium wird behindert. Aescin inhibiert die Enzymfreisetzung,
indem es die Lysosomenmembran stabilisiert. In gleicher Weise erhöht Aescin die
Resistenz von Kapillarwänden: Aescin komplexiert das an den Grenzflächen von
zellulären und lysosomalen Membranen häufig vorkommende Cholesterin. Die
Lipophilie erhöht sich, der Durchtritt für hydrophile Stoffe wie Wasser oder Proteine
wird erschwert.
Flavonderivate, hauptsächlich Oxerutine
Flavonderivate leiten sich chemisch von Rutin ab. Erst durch halbsynthetische
Umwandlung in wasserlösliche Rutoside werden sie resorbierbar und können für die
perorale Arzneitherapie genutzt werden. Von diesen teilsynthetischen Stoffen haben
das ß-Hydroxyethylrutosid (Oxerutin) und Troxerutin (Gemisch aus Tri- und
Tetrahydroxyethylrutin) die größte Bedeutung. Hesperidin, ein natürliches Flavonoid,
kommt meist in Form des teilsynthetisch abgewandelten Trimethylhesperidinchalkon
(TMHC) zum Einsatz. Der vierte Wirkstoff im Bunde der Flavonoide ist Diosmin,
das ohne Abwandlung verwendet wird. Umfangreiche Untersuchungen existieren nur
zu Oxerutin, dessen Ausgangsflavonoide aus dem Japanischen Schnurbaum
gewonnen werden.
Die empfohlenen Tagesdosen werden mit 600 bis 1200 mg für Oxerutine und
Troxerutin, 300 bis 800 mg für TMHC und 400 bis 700 mg für Diosmin angegeben.
Neuere Untersuchungen für Oxerutin zeigen jedoch, daß die Dosis 1000 mg (2 mal
500 mg) betragen muß, um einen antiödematösen Effekt zu erzielen. Das entspricht
in etwa 100 mg Aescin. Bezüglich der Dosierung liegt der Hase im Pfeffer: Viele
Fertigpräparate sind unterdosiert. Ein Effekt kann nicht erwartet werden.
Eine doppelblinde, randomisierte, multizentrische Studie mit 137 weiblichen
CVI-Patienten Schweregrad II vergleicht die therapeutische Äquivalenz von
Oxerutin in zwei verschiedenen Dosierungen und RKSE (100 mg Aescin/d). Die
Behandlungsdauer betrug 12 Wochen, gefolgt von einer sechswöchigen
Nachbeobachtungsphase bei allen drei Behandlungsgruppen. Die Oxerutintherapie
erfolgte entweder mit täglich 1000 mg oder als Initial- und Erhaltungsdosiskonzept,
das heißt die ersten vier Wochen täglich 1000 mg, gefolgt von 500 mg pro Tag über
die verbliebenen acht Wochen. Oxerutin als Initial- und Erhaltungsdosiskonzept war
therapeutisch äquivalent mit RKSE. Durch die Erhaltungsdosis wurde der initial
erzielte Therapieerfolg stabilisiert. Oxerutin in einer Tagesdosierung von 1000 mg
war RKSE numerisch überlegen, verfehlte das Signifikanzniveau aber knapp.
Oxerutin wies allerdings eine höhere Responderrate von 74,6 Prozent im Vergleich
zu RKSE von 57,6 Prozent auf. Das veranlaßte die Autoren der Studie zur
Aussage, die beiden Ödemprotektiva zwar als äuivalent anzusehen - mit einem
Trend zugunsten von Oxerutin.
Der Wirkungsmechanismus von Flavonoiden scheint wie bei Aescin in einer
unspezifischen Membranstabilisierung zu liegen. Zusätzlich intervenieren Oxerutine
jedoch auch bei entzündlichen Prozessen, weil sie zum einen Sauerstoffradikale
abfangen und zum anderen die Aktivität von Makrophagen steigern. Flavonoide
vermitteln ihre Wirkung im Vergleich zu Aescin stärker im Gewebe und nicht so sehr
an der Gefäßwand.
PZ-Titelbeitrag von Elke Wolf, Oberursel
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