Titel
Der Apotheker ist die einzige fachlich kompetente Bezugsperson des
Patienten im Rahmen der Selbstmedikation. Am Beispiel der Obstipation
wird aufgezeigt, wie eine optimale Beratung aussehen könnte und welche
Hilfsmittel dem Apotheker bereits zur Verfügung stehen.
Die Selbstmedikation ist keine Alternative zur ärztlichen Therapie. Vielmehr muß der
Apotheker zusammen mit dem Patienten entscheiden, wo die Grenzen einer
Selbstbehandlung sind und den Patienten gegebenenfalls an den Arzt verweisen.
Eine Zusammenarbeit von Apotheker und Arzt ist notwendig und sinnvoll. Bei der
Empfehlung von Präparaten erhöht eine Abstimmung das Vertrauen in die
Wirksamkeit des Arzneimittels und stärkt so die Compliance. Zudem können
Grenzen der Selbstmedikation gemeinsam in Arzt/Apotheker-Gesprächskreisen
festgelegt werden. Für den Patienten muß der Vorteil einer wirksamen und sicheren
Selbstmedikation aus der Apotheke offensichtlich sein. Daher erscheint es sinnvoll,
gewisse Qualitätsstandards für die Beratung zu erstellen.
Obstipation, ein Fall für die Selbstmedikation?
Die meisten Präparate, die abführend wirkende Arzneistoffe enthalten, sind
rezeptfrei und werden überwiegend im Rahmen der Selbstmedikation eingesetzt. Die
Gefahr des Mißbrauchs von Laxantien ist gegeben, da bei chronischer Einnahme ein
Teufelskreis in Gang gesetzt wird: Die chronische Einnahme von Laxantien führt zu
einem Elektrolytverlust, der die bestehende Obstipation verstärkt und zu einer
erneuten Laxantieneinnahme führt. Aufgrund der möglichen Gefahren der
Laxantieneinnahme ist eine Beratung und Betreuung des Patienten und
gegebenenfalls Verweisung an den Arzt unerläßlich.
Fallbeispiel: Die der Apothekerin bekannte 28jährige Frau Meier kommt am
Freitagabend in die Apotheke und beklagt sich über Verdauungsprobleme, die
bereits seit etwa zwei Wochen andauern. Sie bittet um Rat, welches Abführmittel sie
nehmen soll. Auf Nachfrage gibt Frau Meier an, daß sie höchstens zwei Stuhlgänge
pro Woche hat, der Stuhl sehr hart ist und sie ständig das Gefühl der unvollständigen
Darmentleerung hat. Außerdem klagt sie über Beschwerden im Analbereich. Sie ist
im fünften Monat schwanger, nimmt außer einem Eisen/Folsäurepräparat keine
Arzneimittel ein, achtet auf eine gesunde, vitaminreiche Ernährung, trinkt keinen
Alkohol und raucht nicht.
Bei einer bestehenden Schwangerschaft ist grundsätzlich zum Arztbesuch zu raten.
Da allerdings das Wochenende bevorsteht und die Arztpraxen bereits geschlossen
sind, empfiehlt die Apothekerin ein Laxans, das bei kurzfristiger Anwendung in der
Schwangerschaft wirksam und unbedenklich ist. In Anbetracht der bestehenden
Schwangerschaft sowie der Beschwerden im Analbereich empfiehlt sie die einmalige
Anwendung von Bisacodyl (10 mg, entsprechend zwei Dragees oral mindestens eine
Stunde nach dem Abendessen beziehungsweise zur Nacht). Die Apothekerin weist
darauf hin, daß die Darmentleerung erst etwa vier bis acht Stunden nach der
Einnahme zu erwarten ist. Am Montag sollte die Patientin auf jeden Fall ihren Arzt
aufsuchen. Da Frau Meier das Arzneimittel zum ersten Mal erworben hat, gibt die
Apothekerin ihr eine Fragenkarte mit, anhand derer Frau Meier überprüfen kann, ob
sie alle wichtigen Informationen kennt.
Die Apothekerin füllt gemeinsam mit Frau Meier den Informationsbogen
Arzt/Apotheker aus, den sie am Montag zu ihrem Arzt mitnehmen sollte. Der Bogen
enthält Informationen zur Patientin, zu den geschilderten Verdauungsproblemen
sowie Angaben zum empfohlenen Laxans.
Die Apothekerin bestärkt Frau Meier
darin, auf ausreichende Bewegung sowie einen geregelten Tagesablauf zu achten.
Zusätzlich sollte sie über den Tag verteilt genügend Flüssigkeit (1,5 bis 2 Liter) und
ballaststoffreiche Kost zu sich nehmen. Sie sollte sich auch Zeit für die Defäkation
nehmen.
Beratungsschema
Ein Beratungsgespräch in dieser oder ähnlicher Form könnte auf einem Raster
basieren, das je nach Situation flexibel angepaßt wird. Das Raster sollte die
beratende Apothekerin/den beratenden Apotheker in die Lage versetzen, die
Probleme und Bedürfnisse des Patienten abzuklären und die Grenzen der
Selbstbehandlung zu ziehen. Das Beratungsgespräch beginnt in der Regel mit einer
Beschwerdeschilderung oder wesentlich häufiger mit einem gezielten
Präparatewunsch. Die Eigendiagnose und die zugrundeliegenden Symptome sollten
gezielt mit drei bis fünf offenen Fragen hinterfragt werden. Wichtig ist es, die Fragen
so zu formulieren, daß der Patient sie versteht.
Symptomerfasssung
Beispiele für mögliche Fragen: Wann war der letzte Stuhlgang? Der Normalbereich
liegt bei zwei- bis dreimal täglich bis alle zwei bis drei Tage einmal. Erst wenn der
Stuhlgang seltener als zweimal pro Woche erfolgt, spricht man von einer
Obstipation. Wie lange bestehen die Beschwerden schon? Welche zusätzlichen
Beschwerden treten auf, zum Beispiel Völlegefühl, Blähungen, Krämpfe, Brechreiz,
Schmerzen? Wie ist die Stuhlbeschaffenheit? Wie sehen Ernährung und Tagesablauf
aus? Welche Arzneimittel wurden bereits ausprobiert? Welche anderen Arzneimittel
werden eingenommen?
Bei erstmaliger Nachfrage sollte der Apotheker versuchen, die Ursache der
Obstipation zu klären; zum Beispiel zu wenig Ballaststoffe in der Nahrung, zu geringe
Flüssigkeitszufuhr oder hoher Flüssigkeitsverlust, durch starkes Schwitzen,
Nahrungsumstellung, mangelnde Bewegung oder zu wenig Sport, Laxantienabusus.
Obstipation kann auch als unerwünschte Arzneimittelwirkung auftreten oder durch
Streß, Reise, Ortswechsel oder Klinikaufenthalte bedingt sein.
Wann ist es erforderlich, zum Arztbesuch zu raten? Dazu einige Beispiele: Bei
subchronischer oder chronischer Obstipation, unklaren Abdominalschmerzen,
auftretender Obstipation mit Erbrechen , Schleimbeimengung im Stuhl, Blut im oder
auf dem Stuhl oder am Toilettenpapier, bei Teerstuhl, in der Schwangerschaft und
Stillzeit, bei Kindern unter sechs Jahren, bei Verdacht auf Laxantienabusus sowie
beim Wechsel von Obstipation und Durchfällen. Allgemeine Kontraindikationen für
Laxantien sind (Sub-)Ileus jeder Genese und ein akutes Abdomen (abdominale
Schmerzen unbekannter Ursache).
Ist die Entscheidung zugunsten der Selbstmedikation getroffen, so sollte die Auswahl
des Arzneimittels unter Berücksichtigung pharmakologischer Kriterien wie Wirkung,
Nebenwirkung, Kontraindikation und Wechselwirkung vorgenommen werden.
Zudem sollte das Alter des Patienten, weitere Erkrankungen und die Einnahme
weiterer Arzneimittel berücksichtigt werden.
Grundsätzlich sollten Laxantien nur bei Bedarf und nie prophylaktisch oder
regelmäßig eingenommen werden. Nach erfolgter Darmentleerung sind mindestens
zwei Tage Karenz einzuhalten. Sollte die Obstipation wieder auftreten, ist der Arzt
aufzusuchen. Für einen regelmäßigen Stuhlgang müssen folgende Kriterien erfüllt
sein: ausreichende Füllung des Darms durch faserreiche Nahrung, ausreichende
Trinkmenge, ungestörtes Funktionieren der Peristaltik und des Defäkationsreflexes.
Ist dies nicht gegeben, so empfehlen sich neben nichtmedikamentösen folgende
medikamentöse Maßnahmen:
- pflanzliche Füll- und Quellmittel wie Leinsamen, indischer Flohsamen oder
Weizenkleie;
- salinische Abführmittel wie Glaubersalz oder Bittersalz;
- Bisacodyl und Natriumpicosulfat;
- Lactulose beziehungsweise Lactitol;
- Anthraglykoside/Anthranoide wie Aloe, Cascara, (amerikanische)
Faulbaumrinde, Kreuzdornbeeren, Rhabarber, Sennesblätter oder
Sennesfrüchte.
Unerwünschte Arzneimittelwirkungen
Bei gelegentlicher und sachgemäßer Anwendung von Laxantien zusammen mit
ausreichend Flüssigkeit treten selten Nebenwirkungen auf. Die chronische Einnahme
führt dagegen, mit Ausnahme der Quellstoffe, zu Elektrolytstoffwechselstörungen
(vor allem Hypokaliämie), die ihrerseits wiederum die Obstipation verstärken.
Nebenwirkungen hängen von der Arzneistoffgruppe ab:
- Pflanzliche Füll- und Quellmittel: Flatulenz, "Bauchdrücken" (Völlegefühl); bei
Flohsamen selten allergische Reaktionen (speziell bei pulverisierter Droge und
flüssigen Zubereitungen); bei Indischem Flohsamen in Einzelfällen
Überempfindlichkeitsreaktionen.
- Salinische Abführmittel: Flüssigkeitsretention (cave: Hypertonie) bei
Natriumsulfat; Hypermagnesiämie (cave: Nierenfunktionsstörungen, ältere
Patienten) bei Magnesiumsulfat.
- Bisacodyl: gelegentlich Magenunverträglichkeit, besonders nach Einnahme
zusammen mit Milch oder Antacida, da sich die magensaftresistent
überzogenen Arzneiformen zu früh auflösen.
- Anthraglykoside/Anthranoide: "Laxantien-Kolon" als bräunliche, gutartige, in
der Regel reversible Pigmenteinlagerung (Imprägnierung) der
Darmschleimhaut (Pseudomelanosis coli). Für die Aglyka der
Anthraglykoside wird eine potentiell genotoxische beziehungsweise
zelltransformierende Wirkung beschrieben. Eine Einnahme sollte deshalb nicht
länger als ein bis zwei Wochen erfolgen.
- Lactulose/Lactitol: Flatulenz, Meteorismus, Völlegefühl, Bauchschmerzen und
-krämpfe (häufig); Übelkeit, Diarrhoe,Darmgeräusche und Pruritus
(gelegentlich).
Interaktionen
Bei chronischem Gebrauch oder Mißbrauch von Laxantien (außer Füll- und
Quellstoffen) ist durch den auftretenden Kaliummangel eine Verstärkung der
Herzglykosidwirkung möglich. Bei einmaliger Selbstmedikation ist diese Interaktion
bislang nicht bekannt geworden.
Bisacodyl sollte nicht mit Milch oder Antacida sowie H2-Blockern oder
Hemmstoffen der Protonenpumpe wie Lansoprazol, Omeprazol oder Pantoprazol
eingenommen werden, da Magenunverträglichkeiten auftreten können
(säureresistenter Überzug).
Indische Flohsamen können die Resorption anderer Arzneistoffe verzögern. Bei
insulinpflichtigen Diabetikern kann eine Reduktion der Insulindosis erforderlich sein.
Nach der Auswahl des Arzneistoffes sollte der Patient umfassend über Dosierung
und Einnahmeverhalten, eventuelle unerwünschte Wirkungen und Wechselwirkungen
informiert werden. Dies empfiehlt sich vor allem im Hinblick auf den Beipackzettel,
etwa um eine Non-Compliance zu vermeiden. Der Patient sollte spätestens beim
nächsten Apothekenbesuch um einen Bericht über die Wirksamkeit der
Selbstbehandlung gebeten werden. Es sollte ihm angeraten werden, bei Auftreten
von unerwünschten Wirkungen beziehungsweise bei fehlender Wirksamkeit des
Arzneimittels mit dem Apotheker Rücksprache zu nehmen.
Wünschenswert wäre eine kurze Dokumentation durch den Apotheker, in der
Selbstmedikation sowie Therapieerfolg und mögliche Neben- oder
Wechselwirkungen erfaßt sind. Für eine Beratung im Sinne einer Pharmazeutischen
Betreuung ist dies ebenso unerläßlich, wie die Kontrolle des Therapieerfolges.
Arzneimittelauswahl
Die Auswahl eines für den Patienten geeigneten, wirksamen Arzneimittels fällt nicht
immer leicht, da sich gerade unter den nicht-verschreibungspflichtigen Mitteln noch
viele befinden, die nicht nach dem Arzneimittelgesetz von 1976 zugelassen oder
noch nicht nachzugelassen sind.
Wir haben versucht, Kriterien für die Bewertung nicht-verschreibungspflichtiger
Arzneimittel zu erarbeiten. Mittlerweile wurden 13 Indikationsgruppen bearbeitet
und den Landesapothekerkammern, -verbänden und -vereinen für ihre Mitglieder
zur Verfügung gestellt:
- Ist eine Zulassung nach AMG 1976 vorhanden?
- Ist eine Aufbereitungsmonographie vorhanden?
- Ist die Wirksamkeit nach der zur Verfügung stehenden Literatur, zum Beispiel
Arzneistoff-Profile, Martindale, DAB 10 Kommentar, Datenbanken wie
Micromedex oder Medline, allgemein anerkannt?
- Enthält das Fertigarzneimittel Bestandteile, die bei der beanspruchten
Indikation wirksam sind?
- Ist die Menge beziehungsweise Konzentration des wirksamen Bestandteils
ausreichend beziehungsweise nachvollziehbar definiert? Bei
Phytopharmaka-Kombinationen sollen bei Zweierkombinationen mindestens
50 bis 75 Prozent beziehungsweise bei Dreierkombinationen mindestens 50
Prozent der jeweiligen Einzeldosis enthalten sein.
- Sind die vom Hersteller empfohlenen Dosierungen wirksam im Sinne der
beanspruchten Indikation?
- Werden verschiedene Therapierichtungen kombiniert?
PZ-Titelbeitrag von Bettina Wick und Professor Dr. Rainer Braun, Eschborn
© 1997 GOVI-Verlag
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