Titel
Die Pharmakologie hat wissenschaftshistorisch mehrere Quellen: Zum
einen bestehen disziplingenetische Bezüge zur traditionellen Apotheker- und
Scheidekunst sowie zur analytischen Chemie, aber auch zur alten Materia
medica und zur experimentellen Physiologie, die im Rahmen der
medizinischen Fakultäten gelehrt wurden. Für die Etablierung der
Pharmakologie als eigenständiges akademisches Fach war dabei die
Begründung eines wissenschaftlichen, einer Universität angeschlossenen
Labors von besonderer Bedeutung. Das erste pharmakologische Labor in
diesem Sinne wurde 1847 in Dorpat, einer deutschsprachigen Universität im
Baltikum, gegründet.
Die maßgebliche Persönlichkeit dabei war Rudolf Buchheim (1820-1879). Er tat
den entscheidenden Schritt zur Etablierung der experimentell ausgerichteten
Pharmakologie an Hochschulen. Zwar blieb sein Institut in Dorpat bis Mitte der
1860er Jahre das einzige im deutschen Sprachraum, dann aber zogen die übrigen
Universitäten nach und gründeten ähnliche Laboratorien oder Institute.
Rudolf Buchheim wurde am 1. März 1820 in Bautzen geboren und wurde noch vor
Erreichen seiner Matura (1838) Vollwaise. Nach Studien an der
Medicochirurgischen Akademie in Dresden und der Universität Leipzig wurde er
1845 zum Doktor der Medizin promoviert. Schon während seiner Studienzeit hatte
er als Hilfsassistent am Anatomisch-Physiologischen Institut in Leipzig unter Leitung
des bedeutenden Physiologen Ernst Heinrich Weber (1795-1878), einem der
Mitbegründer der physikalisch orientierten Physiologie, gearbeitet. Anschließend
wirkte er einige Jahre als praktischer Arzt und Geburtshelfer und trat nebenbei als
medizinischer und pharmazeutischer Redakteur und Übersetzer hervor. Wegweisend
für seinen weiteren Lebensweg war die Übersetzung des Lehrbuchs von Jonathan
Pereira (1804-1853), das 1843 in zweiter Auflage unter dem Titel "The Elements of
Materia Medica and Therapeutica" in London erschienen war.
Ende 1846 erhielt Buchheim die Berufung nach Dorpat, wobei wohl die Empfehlung
des Dekans der dortigen Universität, Friedrich von Bidder (1810-1894),
ausschlaggebend war. Im Sommer 1847 errichtete Buchheim zunächst im Keller
seines Privathauses weitgehend aus eigenen Mitteln ein Laboratorium für
experimentelle pharmakologische Untersuchungen. Das zunächst recht kleine
Privatlabor war das erste an einer Universität kooptierte pharmakologische Institut
im deutschen Sprachraum, wahrscheinlich sogar weltweit. Bereits 1849 wurde
Buchheim von der Fakultät zum Ordinarius vorgeschlagen, unter ausdrücklichem
Hinweis auf seine Verdienste um die Pharmakologie und die erheblichen
persönlichen Mittel, die er zu deren Förderung eingesetzt hatte. Die Errichtung eines
universitätseigenen Laboratoriums in den Räumen des ehemaligen Theatrum
anatomicum konnte aber erst 1860 realisiert werden. In den Jahren 1847-1867
forcierte Buchheim mit erheblicher Tatkraft die Etablierung der experimentellen
Pharmakologie an der Dorpater Universität. Obwohl er selbst keine überragende
Einzelentdeckung erzielte, war sein neues wissenschaftstheoretisches und
forschungs-praktisches Konzept wegweisend, und sein Unterricht sowie sein
Forschungslaboratorium zogen zahlreiche begabte junge Studenten nach Dorpat.
Die Dorpater Periode war für den Lebensweg Buchheims die entscheidende. Hier
legte er die Grundlagen einer wissenschaftlichen Verselbständigung der
Pharmakologie auf naturwissenschaftlicher experimenteller Basis. Ergänzend
verfaßte er zahlreiche universitätspolitische Schriften, in denen er sich für die
akademische Etablierung der Pharmakologie einsetzte, und trug maßgeblich zur
Konstitution der Pharmakologie als einer neuen (medizinischen!) Disziplin bei. Unter
seinen Schülern waren mehrere, die später in herausragende Positionen gelangten,
so etwa Ernst von Bergmann (1836-1907), der spätere Chirurgie-Ordinarius in
Würzburg und Berlin, sowie insbesondere Oswald Schmiedeberg (1838-1921), der
zunächst Buchheims Nachfolger in Dorpat werden sollte (1867) und dann ab 1873
in Straßburg eine weitreichende akademische Tätigkeit entfaltete.
In seinem letzten Lebensjahrzehnt (1867-1879) wirkte Rudolf Buchheim als
Professor für Pharmakologie in Gießen, wo sich allerdings seine beruflichen
Hoffnungen nicht erfüllten. So verlegte er seine Aktivitäten wieder verstärkt auf
redaktionelle Arbeiten und die Weiterführung seines "Lehrbuchs der
Arzneimittellehre", das bereits 1854-1856 in erster Auflage erschienen war und
1878 nach gründlicher Überarbeitung und Erweiterung seine 3. Auflage erfuhr. Bei
Buchheims Tod am 25. Dezember 1879 in Gießen hatten ihn sein Schüler Oswald
Schmiedeberg und auch der ab 1869 in Bonn lehrende Pharmakologe Karl Binz
(1832-1913) an fachlicher Bedeutung und persönlicher Ausstrahlung bereits
erkennbar übertroffen. Unbeschadet dessen steht sein
experimental-pharmakologisches Labor in Dorpat am Beginn einer weltweit
erfolgreichen Entwicklung zur eigenständigen akademischen Disziplin.
PZ-Titelbeitrag von Dr. Franz Kohl


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