Titel
Mehr als die Hälfte
der Deutschen ist übergewichtig oder adipös; 15 bis 20
Prozent der Erwachsenen sind sehr dick. Adipositas ist
somit in Deutschland endemisch. Unsere heutigen
Vorstellungen zur Pathogenese - zu viel Essen und zu
wenig Bewegung - sind jedoch vereinfachend und nicht
geeignet, das Problem zu verstehen. Dementsprechend ist
die Therapie meist erfolglos. Eine seriöse Behandlung
besteht in einer gesunden Lebensweise; das bedeutet mehr
Bewegung, gesunde, also fettärmere Ernährung sowie mehr
persönliche Autonomie durch Streßprophylaxe und
Spannungslösung.
Von Adipositas spricht man, wenn der Anteil der
Fettmasse am Körpergewicht bei Frauen 25 bis 30 Prozent
und bei Männern 20 Prozent übersteigt. Das
gesundheitliche Risiko hängt vom Ausmaß der Fettsucht,
dem Fettverteilungstyp und dem Alter ab. Die
Zusammenhänge zwischen Übergewicht und chronischen
Erkrankungen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Hypertonie
und Typ-II-Diabetes mellitus sind heute gut belegt. Deren
Prävalenz korreliert mit der Prävalenz der Adipositas.
Bei androidem (bauchbetontem) Fettverteilungstyp, einer
Stoffwechselerkrankung und/oder weiteren Risikofaktoren
wie Hypertonie oder Rauchen besteht eine zwingende
Indikation zur Therapie bereits bei geringgradiger
Fettsucht. Die Ziele sind, neben einer langsamen
dauerhaften Gewichtsabnahme, vorrangig eine Verbesserung
der Stoffwechsellage, verminderte Morbidität sowie ein
Zugewinn an Lebensqualität.
Eine Gewichtsreduktion ist auch für die Behandlung von
Folgeerkrankungen wichtig und wird nicht durch deren
medikamentöse Therapie ersetzt. Rigide
Verhaltenskontrollen und drastische Diäten sind jedoch
wenig hilfreich und führen eher zu Störungen des
Eßverhaltens. Die Adipositasbehandlung muß individuell
und unter Einbeziehung des sozialen Umfelds konzipiert
werden. Sie ist interdisziplinär und setzt auf
Strategien wie Diätetik, dosierte körperliche Belastung
und Verhaltenstherapie.
Schulung und
Gesundheitsförderung
Der Arzt muß im Patienten ein Gefühl der
Verantwortung für die eigene Gesundheit und die der
Mitmenschen wecken. Die Änderung der Lebensweise
bedeutet Vorbeugung, und dabei ist der Lebensstil des
Arztes und Therapeuten ganz wesentlich. Schulung in der
Gruppe, mentale Angebote wie Supervision oder
Streßmanagement sind sinnvoller Teil der Therapie.
Gesunde Ernährung und Diätetik sind Grundlagen der
Adipositastherapie. Eine gesunde vollwertige Kost deckt
den Bedarf an essentiellen Nährstoffen und Energie.
Praxisnahe Beispiele sind eine Ernährung nach den
Empfehlungen der DGE oder die mediterrane Kost.
Reduktionsdiäten gehören zu den Energie-definierten
Kostformen. Nach Energie- und Nährstoffgehalt
unterscheidet man die konventionelle Reduktionskost (1200
bis 1500 kcal/Tag), Niedrig- und Niedrigstkaloriendiäten
(800 bis 1200 bzw. 400 bis 800 kcal/Tag). Obwohl diese
Diäten sicher und etabliert erscheinen, muß vor einer
unkontrollierten und wiederholten Anwendung, besonders
durch Normalgewichtige, gewarnt werden. Bei der
Adipositas besteht grundsätzlich keine Indikation für
eine drastische Kalorienreduktion (Heilfasten) und erst
recht nicht für ein vollständiges Fasten.
Außenseiterdiäten mit extremen Nährstoffrelationen
stellen ein Gesundheitsrisiko dar und sind obsolet.
Bewegung
Bewegung und ein gemäßigtes körperliches
Training gehören wesentlich zur Adipositastherapie. Die
Beratung beinhaltet die sinnvolle Planung von sportlichen
Aktivitäten, die sich am Anstieg der Pulsfrequenz und
der subjektiv empfundenen Anstrengung orientieren
müssen.
Das Konzept der Verhaltenstherapie zielt ab auf ein neues
Eß- und Trinkverhalten sowie einen
verantwortungsbewußten Umgang mit dem Körper. Der
Patient soll eine flexible Kontrolle über sein
Eßverhalten erlernen.
Medikamentöse Therapie
Grundsätzlich ist eine medikamentöse Therapie
nur sehr selten indiziert und dann auf sechs Wochen zu
begrenzen. Experimentell und klinisch geprüfte
Medikamente lassen sich in fünf Gruppen einteilen:
- serotoninerg wirkende und appetitmindernde Stoffe
wie Fenfluramin, Dexfenfluramin und Fluoxetin;
- zentral adrenerg wirksame, appetitdrosselnde und
teilweise den Energieverbrauch steigernde Stoffe
wie Amphetamine;
- peripher beta-adrenerg und thermogenetisch
wirksame Substanzen;
- regulatorische Peptide des Darms wie
Cholecystokinin und Galanin, Hormone wie
Corticotropin-releasing-Hormon;
- Disaccharidase- und Lipasehemmer.
Anstrengungen zur Prävention
Für die meisten Menschen ist die Fettsucht ein
chronisches Phänomen, das gegenwärtig nicht dauerhaft
behandelbar ist. Angesichts der Häufigkeit und der
Komplexität des Problems Adipositas müssen künftig
vermehrt Anstrengungen in der Prävention unternommen
werden. Die Vorbeugung ernährungsabhängiger Krankheiten
ist gemeinsame Aufgabe aller Partner im Gesundheitswesen.
PZ-Titelbeitrag von Manfred James Müller, Kiel
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