Teure Orphan Drugs setzen GKV unter Druck |
| Melanie Höhn |
| 06.11.2025 16:20 Uhr |
Debattierten im Hause des GKV-Spitzenverbands: Moderator Christian Geinitz (FAZ), Paula Piechotta (Bundestagsabgeordnete Bündnis 90/Die Grünen), Stefanie Stoff-Ahnis (stellvertretende Vorstandsvorsitzende des GKV-Spitzenverbandes), Professor Jochen Schmitt (Direktor des Zentrums für Evidenzbasierte Gesundheitsversorgung an der TU Dresden) und der SPD-Bundestagsabgeordnete Matthias Mieves (v.l.). / © PZ/Höhn
Bei der Diskussion um die Finanzierbarkeit der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) spielen auch die sogenannten »Orphan Drugs« eine wesentliche Rolle. Diese Medikamente zur Behandlung von Patienten mit seltenen Erkrankungen stellen einen erheblichen Kostenfaktor für das GKV-System dar. Aufgrund kleiner Zielgruppen und hoher Entwicklungskosten werden für diese Arzneimittel sehr hohe Preise verlangt.
Im Fahrwasser der Debatten um die Stabilisierung der GKV-Finanzen lud deshalb der GKV-Spitzenverband gestern Abend zur Diskussionsveranstaltung »Big Pharma, big Prices: Arzneimittel im Höhenflug« in sein Haus. Im Vordergrund stand die Frage, wie die Preise dieser neuen Arzneimitteltherapien und innovativer Medikamente in Deutschland wieder in nachhaltig finanzierbare Bahnen gelenkt werden können.
In seinem Impuls-Statement betonte Professor Jochen Schmitt, Direktor des Zentrums für Evidenzbasierte Gesundheitsversorgung an der TU Dresden und Mitglied des Sachverständigenrats Gesundheit und Pflege, zunächst, dass der medizinische Fortschritt zu einer Vielzahl von Therapien geführt habe, gerade Gen- und Zelltherapien würden vielversprechende Ansätze liefern.
In Deutschland gebe es einen besonders raschen Zugang zu innovativen Arzneimitteln, dies stelle das Gesundheitssystem jedoch vor »riesige Herausforderungen«, weil die Preise für diese Medikamente immens gestiegen seien. Während vor 15 Jahren der durchschnittliche Preis für ein patentgeschütztes neues Arzneimittel noch 1000 Euro betrug, seien es jetzt um die 50.000 Euro. Wenn man es auf die Tagestherapiekosten reduziere, sei ein Anstieg um 200 Prozent erfolgt. Gentherapien für seltene Erkrankungen würden teilweise über eine Million Euro kosten.
Schon jetzt seien die Arzneimittelkosten nach den Krankenhausbehandlungen der zweitgrößte Kostenblock der GKV. Zudem werde das Gesundheitssystem mit den steigenden Lohnnebenkosten zu einem Problem für den Wirtschaftsstandort Deutschland.
Damit auch in Zukunft wirtschaftliche und bedarfsgerechte Arzneimittelversorgung gewährleistet werden könne, müssten die Preisbildungsmechanismen für innovative Arzneimittel überprüft werden, forderte Schmitt. Immer häufiger handele es sich bei diesen innovativen Therapien um maßgeschneiderte und aufwendig hergestellte Therapien für seltene Erkrankungen. Der medizinische Nutzen solcher Orphan Drugs sei jedoch schwierig nachweisbar, auch ohne Vorlage von Daten werde ein fiktiver Zusatznutzen angenommen. Man wisse jedoch nicht, ob diese Medikamente wirken oder nicht. Das Sozialgesetzbuch schreibe jedoch vor, dass der Preis eines Arzneimittels an seinen Zusatznutzen gekoppelt werde.
Der Sachverständigenrat Gesundheit und Pflege, dem Schmitt angehört, habe einen Vorschlag für ein lernendes Gesundheitssystem vorgelegt, in dem für neue Medikamente nach der Markteinführung in der klinischen Praxis systematisch Daten gesammelt werden, die für Preisnachverhandlungen genutzt werden. Für Gentherapien werden sogenannte »Pay-for-performance«-Modelle empfohlen, in denen Rückforderungen an den Hersteller verlangt werden können. Zudem wird eine dynamische Preisanpassung angeraten.
Schmitt machte auch auf das Problem der unterschiedlich starken Verhandlungspositionen aufmerksam. Die Hersteller würden aus einer »Position der Stärke« heraus verhandeln, »sie können ihr Medikament jederzeit vom Markt nehmen oder zumindest damit drohen«. Er empfiehlt der Politik und den Krankenkassen, sich das Recht einzuräumen, von den Handlungen zurückzutreten. »Dann würde die Parität zwischen den Parteien hergestellt werden.«
Der Sachverständigenrat sieht es laut Schmitt kritisch, dass die Hersteller die Preise für Orphan Drugs in den ersten sechs Monaten frei festlegen dürfen. Das führe zwar zu einem schnellen Marktzugang, zu dem Zeitpunkt wisse man aber noch nicht, ob das Medikament einen Zusatznutzen bringe. Diese Preise hätten eine »sehr starke psychologische Wirkung« und man komme von diesen Beträgen in den Verhandlungen nur schwer weg. »Wir empfehlen daher, den Initialpreis an der zweckmäßigen Vergleichstherapie anzusetzen und wenn ein Zusatznutzen nachgewiesen wurde, im Nachgang das Finanzielle auszugleichen.«
Um das Risiko einer unkontrollierten Ausgabensteigerung zu begrenzen, spricht er sich für Arzneimittelbudgets aus, die in Frankreich schon erfolgreich eingesetzt worden seien. »Wir empfehlen globale Budgets, nicht auf bestimmte Wirkstoffgruppen bezogen, und bei Überschreitung der Ausgabengrenze würde dann ein rückwirkender Preisabschlag fällig werden.«
Bei der anschließenden Podiumsdiskussion sagte Matthias Mieves, stellvertretender gesundheitspolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, dass es keine leichte Aufgabe sei, einerseits attraktiv für die Industrie zu sein und zugleich die Arzneimittelpreissteigerung im Griff zu haben. »Ich will, dass unser Gesundheitswesen inklusiv und innovativ bleibt und sich auch in diesen beiden Dimensionen positiv weiterentwickelt.« Auch betonte er wie Schmitt, dass die Krankenversicherung in Deutschland umfassend sei und alle Menschen Zugang zu den besten Therapien und Arzneimitteln hätten. Dabei brauche es jedoch gute Mechanismen, um den Zugang dazu zu gewährleisten, aber auch deren Bezahlbarkeit sicherzustellen.
Mieves will an verschiedenen Stellen ansetzen, zunächst fordert er eine »deutlich bessere Dateninfrastruktur«. Zwar seien die Rahmenbedingungen für klinische Studien und die Datennutzung in Forschung und Entwicklung mit dem Gesundheitsdatennutzungsgesetz und dem Medizinforschungsgesetz schon massiv verbessert worden. »Aber da geht noch mehr«, erklärte er. Beim Thema Orphan Drugs brauche es Daten, um einen Nutzen festzustellen und diesen für die Bepreisung zu verwenden. Das System dürfe nicht kollabieren und das AMNOG müsse reformiert werden. Zudem wünscht er sich eine Auswirkungsanalyse.
Stefanie Stoff-Ahnis, stellvertretende Vorstandsvorsitzende des GKV-Spitzenverbands, betonte, dass die Dynamik des Preisanstiegs für Arzneimittel trotz AMNOG »extrem hoch« sei und sich in stärkerer Dynamik fortsetze, dazu würden die historisch gestiegenen Zusatzbeiträge kommen. Auch sie fordert »dringliche Veränderungen in der Preisgestaltung, um das solidarische System finanzierbar zu halten«. Stoff-Ahnis erläuterte: »Wenn kein Zusatznutzen nachgewiesen werden kann, gibt es eine strikte Grenze – zu diesem Prinzip muss man zurückkommen.« Als kurzfristig wirkendes Instrument stehe die Erhöhung der Herstellerabschläge im Raum, zudem die Absenkung der Umsatzsteuer von 19 auf 7 Prozent.
»Ich finde es spannend, dass der politische Druck zum ersten Mal groß genug ist, um politische Veränderungen zu machen«, erklärte Paula Piechotta, Berichterstatterin für Arzneimittel der Grünen-Bundestagsfraktion, bei der Podiumsdiskussion. »Ich glaube, dass es ein Grundproblem ist, dass die GKV derzeit keinen ausreichend guten Verhandlungshebel hat«. Mehr Daten würden nicht reichen, wenn die GKV keinen ausreichend großen Verhandlungshebel habe. »Wir werden es uns auf Dauer nicht leisten können, deutlich überproportionale Anstiege in den Ausgaben für Arzneimittel zu zu haben.« Am Ende gehe es darum, dass die GKV den stärkeren Hebel hat.