| Daniela Hüttemann |
| 06.07.2022 09:00 Uhr |
Patientinnen mit Haarausfall sollten sich frühzeitig zu Haarersatz beraten lassen, zum Beispiel vor einer anstehenden Chemotherapie. / Foto: Getty Images/Alvaro Lavin Photography
Nur in Deutschland sei das Tragen von Perücken immer noch ein gesellschaftliches Tabu, berichtete Friseurmeisterin und Perückenmacherin Betty Göbel bei einem Workshop beim 30. NZW-Krebskongress vergangenen Samstag in Hamburg. Perücken gibt es schon seit Jahrtausenden, auch Kleopatra trug eine. In anderen Ländern wie Italien würden sie wie selbstverständlich als modisches Accessoire genutzt, in der Regel in hochwertiger Qualität. »Hierzulande denken wir eher an verstaubte Fiffis, gruselige Schaufensterpuppenköpfe, Karneval und Drag Queens«, kritisierte die Expertin für Zweithaar das gesellschaftliche Tabu.
Heutige professionelle Perücken könne man nicht mehr als solche erkennen. Es gibt sie in allen Formen und Farben. Je nach Material lassen sie sich beliebig schneiden, färben und frisieren. Echthaar lässt sich beispielsweise wie eben echtes Haar behandeln, während Monoacrylix hitzeempfindlich ist, also nicht geföhnt werden darf. »Vorsicht bei Perücken aus diesem Material auch beim Kochen oder Öffnen des Backofens«, warnte Göbel. Primehair Synthetik sei dagegen hitzebeständig und lasse sich sogar zu Locken föhnen, nehme aber Gerüche an.
Für einen guten Tragekomfort muss eine Perücke sorgfältig angepasst werden. »Die beiden ersten Fragen, die immer kommen, sind: Fliegt die Perücke mir auch nicht weg? Und schwitze ich darunter?«, berichtete Göbel, die sich in Niedersachsen mit mehreren Salons neben dem Friseurhandwerk auch auf professionelle Beratung zu Zweithaar spezialisiert hat. Zudem gibt sie Schulungen und Workshops, zum Beispiel in Krankenhäusern. Zur zweiten Frage sagte sie: »Wenn ich grundsätzlich viel am Kopf schwitze, werde ich das auch unter einer Perücke tun; umgekehrt wird jemand, der kaum am Kopf schwitzt, keine Probleme haben.«
Jede Perücke werde individuell ausgesucht und angepasst. Dabei sei das untere Teil, die Montur, am wichtigsten – sie muss fest genug sitzen, damit die Perücke nicht verrutscht, aber auch nicht zu stramm. »Dann ist auch Cabrio fahren oder Headbanging möglich«, so die Referentin. Befestigungsmöglichkeiten gibt es verschiedene, zum Beispiel per Clips an Resten des Eigenhaars oder auch zum Kleben bei komplettem Haarverlust. Davon hängt auch ab, ob die Perücke dauerhaft getragen oder abgenommen wird. Mit geklebten Echthaarteilen kann man sogar schwimmen gehen.
»Patientinnen unter einer Chemotherapie sollten am besten frühzeitig zur Erstberatung kommen, wenn noch Haare vorhanden sind«, riet die Friseurin. Krebspatientinnen haben Anspruch auf eine Perücke, bis das Echthaar ausreichend nachgewachsen ist. Bei dauerhaftem Haarverlust, sei es durch wiederholte Chemotherapie, erblich bedingtem Haarausfall oder infolge der Autoimmunerkrankung Alopecia areata, hat der oder die Betroffene einmal im Jahr Anspruch auf eine Perücke. Länger halten zumindest Synthetikperücken auch bei guter Pflege nicht, Echthaar mitunter schon. Alle Modelle verlieren mit der Zeit Haare und dünnen aus.
»Alles, was nicht handgeknüpft ist, kann im Waschbecken mit kaltem bis lauwarmem Wasser und Shampoo gewaschen werden«, erklärte Friseurmeisterin Betty Göbel. Für Echthaar kann man gewöhnliches Shampoo nehmen, Synthetik braucht ein spezielles Pflegemittel. Um keine Haare rauszureißen, sollte das Haarteil nur vorsichtig shampooniert und unter fließendem Wasser abgespült werden. Dann die Perücke in ein Handtuch wickeln und vorsichtig ausdrücken. Bei Synthetikhaarteilen wird anschließend ein spezieller Balsam zur Pflege aufgetragen. Zum Trocknen sollte die Perücke auf einen Ständer gesetzt werden, der von unten Luft heranlässt (kein Puppenkopf). Erst nach dem Trocknen kämmen.
Dabei habe jede Krankenkasse ein etwas anderes Budget. »Es ist wie bei der Brille«, erklärte Göbel. Es gibt voll erstattungsfähige, günstige Modelle; die Patientin kann jedoch auch für ein teureres Modell zuzahlen. Die Perücke oder das Haarteil kann aus Synthetik, Echthaar oder gemischt sein. Ob Anspruch auf eine Echthaarperücke besteht (die in der Regel teurer sind), hängt laut Stiftung Warentest vom Einzelfall ab, zum Beispiel, wenn der Arzt eine Unverträglichkeit gegen Synthetik diagnostiziert. »Die Genehmigung hängt manchmal auch von einzelnen Sachbearbeitern ab«, weiß Göbel aus Erfahrung. Es lohne sich, nachzuhaken; die Genehmigung könne aber mitunter lange dauern.
Patientin und Arzt sollten wissen, dass die Verordnung des Hilfsmittels nicht auf das normale Budget des Arztes geht. Die Mediziner bräuchten deshalb nicht zu zögern, so Göbel. Verschreiben könne jede Fachrichtung; in der Regel tue dies der Haut-, Frauen-, Hausarzt oder Onkologe. Am besten lasse sich die Patientin vorher von einem professionellen Fachgeschäft beraten. Dies bestelle dann infrage kommende Modelle für die Anprobe.
Gerade bei Echthaarperücken gelte: Jedes Stück sei ein Unikat. Zudem gebe es immer wieder Lieferschwierigkeiten. Auch daher empfehle sich eine frühzeitige Beratung, bei Chemopatientinnen auch schon prophylaktisch. Göbel berät parallel direkt zu künstlichen Augenbrauen und Wimpern oder entsprechendem Make-up.
»Ich rate zu einem offenen Umgang mit dem Haarausfall und dem Tragen einer Perücke – das ist nichts Schlimmes, schließlich kann man nichts für seine Erkrankung«, betonte Göbel. Ihren Kundinnen gebe das Ersatzhaar oft Mut und neues Selbstwertgefühl.