Stoizismus – antike Rezepte für Krisenzeiten |
Jennifer Evans |
20.05.2024 12:00 Uhr |
Widerstandsfähig und gelassen: Die antike Lebensphilosophie der Stoiker wie Marcus Aurelius hat weltweit neue Anhänger gefunden. / © Adobe Stock/Fabio (KI-generiert)
Ein Stoiker folgt seinem Verstand und lässt nie sein Herz darüber siegen. Wissen ist für ihn die höchste Tugend. Er prüft und wägt also gründlich und besonnen ab, bevor er entscheidet. Daraus entsteht Gelassenheit und es hilft ihm, Krisen zu akzeptieren und diese zu überwinden. Klagen gibt es nicht. Denn Stoiker gehen davon aus, dass Gefühle nur entstehen, weil Menschen Situationen auf eine bestimmte Art und Weise bewerten. Wer das verstanden hat, kann seine Gedanken und Gefühle kontrollieren und ist ihnen nicht mehr ausgeliefert.
Ihr Ideal ist, Schmerz nicht als negativ zu betrachten und demzufolge auch nicht zu beweinen, was sich nicht beeinflussen lässt. Annehmen ist der Schlüssel. Auch wenn es um den Tod geht. Ein Stoiker akzeptiert den Verlust und ändert damit seine Einstellung zur Trauer. Zu den Vertretern dieses antiken Gedankenguts zählen Marcus Aurelius, Epiktet und Seneca.
Ihre Lehren sind seit einigen Jahren wieder äußerst beliebt und lösten eine Bewegung namens »Modern Stoicism« aus, besonders in England und den USA. So haben sich zum Beispiel Akademiker an der Universität von Exeter zusammengetan und einen Blog namens »Stoicism Today« ins Leben gerufen, der gleichzeitig der offizielle Blog der weltweiten Modern Stoicism Organization ist.
Bald entstand auch die »Stoische Woche«, ein internationales und alljährliches Online-Event. Ziel ist es herauszufinden, ob Menschen von einer stoischen Lebensführung profitieren können. Die Ergebnisse sind nach Angaben des wissenschaftlichen Teams, bestehend aus Psychotherapeuten, Philosophen und Verhaltenstherapeuten, durchweg positiv.
Im Nachgang der »Stoischen Woche« füllen die Teilnehmenden immer Fragebögen aus. Nach Angaben der Wissenschaftler haben die Ergebnisse gezeigt, dass sich insgesamt die negativen Emotionen der Teilnehmenden im Schnitt um 14 Prozent verringerten und die positiven Emotionen gleichzeitig um durchschnittlich 10 Prozent zunahmen. Die Lebenszufriedenheit stieg demnach im Schnitt um 13 Prozent innerhalb nur einer Woche an.
Und wer wissen will, wie stoisch er selbst lebt, kann das testen. Das Wissenschaftsteam hat eine entsprechende Skala entwickelt, die sogenannte Stoic Attitudes and Behaviours Scale (SABS), die online kostenfrei zum Download bereitsteht. Übrigens haben sich seit Einführung der »Stoischen Woche« im Jahr 2012 bis heute bereits rund 40.000 Menschen zu dem Event angemeldet.
In den USA nutzt der Beststellerautor Ryan Holiday die Gedanken der antiken Denker als Grundlage für seine Karriereratgeber. Er beschreibt, wie die stoischen Weisheiten dabei helfen, besser mit beruflichen Niederlagen umzugehen, sich davon zu distanzieren und daran zu wachsen.
Die Prinzipien der Philosophen halten in seinen Augen eine hervorragende Toolbox für Führungskräfte bereit, wie er gegenüber der »Wirtschaftswoche« sagte. Dazu gehören der Fokus auf das Wesentliche, eine klare Zielsetzung, viel Einfallsreichtum, aber auch Demut, Bescheidenheit, Freundlichkeit, Mut sowie die Kunst, mehr zuzuhören und weniger zu reden. Ärger, Beschwerden und Schuldzuweisungen seien dagegen destruktive Ersatzhandlungen, die Menschen bei der Arbeit nicht zusammenbringen, sondern entzweien. Die Aufmerksamkeit sollte auf dem Gemeinwohl liegen – auch, um sich selbst und andere zu verbessern.
Er berichtet ebenfalls davon, wie beliebt der Stoizismus im Silicon Valley ist. Viele Menschen in der Tech- und Geschäftswelt finden laut Holiday in der stoischen Weltsicht Stärke und Bedeutung. Die Stärke ziehen sie vor allem aus vier Tugenden: Disziplin, Mut, Gerechtigkeit und Weisheit. »Es stellt sich heraus, dass unser Leben als Menschen besser funktioniert, wenn wir den Weg dieser vier Tugenden in allem, was wir tun, befolgen«, so der Autor und Marketingstratege gegenüber der »Wirtschaftswoche«.
In der Umgangssprache ist das Wort stoisch jedoch nicht unbedingt positiv belegt. Wer stoisch ist, zeigt sich in der Regel unbeweglich, beharrlich, angstfrei und leidenschaftslos. Dabei bezeichnet das altgriechische Wort »stoa« eigentlich eine Säulenvorhalle. Weil sich in einer solchen Halle in Athen einst die Vertreter der philosophischen Schule des Stoizismus trafen, ist die Lehre also nach einen Gebäudetyp benannt.
Dass ihre Sicht auf die Welt erneut zum Trend werden würde, hätte sicher keiner der Vorväter gedacht. Ein wenig dazu beigetragen hat sicher auch eine berühmte fiktive Figur: Mr. Spock aus der Serie »Star Trek«. Dessen strikte Abneigung gegen Gefühle wird der uralten Philosophie allerdings nicht ganz gerecht. Ein Stoiker kann sich durchaus freuen. Etwa dann, wenn es ihm gelingt, seinen Tugenden zu folgen.
Praktikabel für den Alltag erscheinen die Weisheiten von Aurelius, Epiktet und Seneca dennoch. Frei formuliert würden einige von ihnen in etwa so klingen: Mitleid hilft keinem. Hadere nicht mit dem Schicksal, wenn du es ohnehin nicht ändern kannst. Gehe gelassen durchs Leben. Mach dein Glück nicht von anderen abhängig. Werde nicht zum Spielball deiner Emotionen. Sei dankbar, denn das Leben ist vergänglich.
Warum erlebte aber nun das antike Gedankengut in den vergangenen Jahren eine erneute Blütezeit? Experten gehen davon aus, dass es Trost in Krisenzeiten schenkt. Schließlich entwickelte sich auch die stoische Philosophie in einer Zeit der Krise mit Kriegen, Naturkatastrophen und einer Pandemie. Und damals war sie vornehmlich als eine Art Bewältigungsstrategie für das alltägliche Leben gedacht – wie heute auch.