Statine + Muskelschmerzen = Noceboeffekt |
Theo Dingermann |
29.08.2022 17:30 Uhr |
Entwickeln Patienten unter Statintherapie Muskelschmerzen, steckt in neun von zehn Fällen nicht das Statin dahinter. / Foto: Adobe Stock/wutzkoh
In der aktuellen Ausgabe von »The Lancet« publiziert das internationale Wissenschaftlerkonsortium »Cholesterol Treatment Trialists’ Collaboration« die Daten einer sehr großen Metaanalyse, in der 23 randomisierten Doppelblindstudien mit etwa 155.000 Patienten ausgewertet wurden. Die Forschenden zeigen damit, dass tatsächlich nur weniger als 10 Prozent der Muskelsymptome unter einer Therapie mit Statinen ursächlich auf die Statineinnahme zurückzuführen sind. Zudem gilt das geringfügig erhöhte Risiko für Muskelbeschwerden hauptsächlich im ersten Jahr einer Statintherapie.
In 19 der ausgewerteten placebokontrollierten Studien hatten während einer mittleren Nachbeobachtungszeit von vier Jahren 16.835 Probanden unter Statin-Einnahme (27,1 Prozent) über Muskelschmerzen oder Muskelschwäche geklagt. Dem gegenüber standen jedoch 16.446 Probanden aus den Placebogruppen (26,6 Prozent), die ebenfalls über Muskelbeschwerden berichteten.
Eine Statintherapie führte im ersten Jahr zu einem relativen Anstieg der Muskelschmerzen oder -schwäche um 7 Prozent, danach jedoch zu keinem signifikanten Anstieg mehr. Das entspricht einer absoluten Überschussdiagnose von 11 Ereignissen pro 1000 Personenjahre. Dies wiederum deutet darauf hin, dass nur bei einer von 15 Meldungen muskuläre Beschwerden tatsächlich auf das Statin zurückzuführen waren.
Wurden die Studien nach Statin und Statindosis unterteilt, ergaben sich keine Hinweise darauf, dass die relativen Risiken für Muskelbeschwerden bei der Einnahme verschiedener Statine signifikant variierten. Auch gab es keine klare Dosisbeziehung für ein bestimmtes Statin.
Zwar wurden im Rahmen intensiverer Statintherapien, zum Beispiel mit 40 bis 80 mg Atorvastatin oder 20 bis 40 mg Rosuvastatin pro Tag, im Vergleich zu Placebo geringfügig mehr Muskelbeschwerden gemeldet als in weniger intensiven Therapien. Aber auch in diesen Fällen nahmen die Meldungen nach einem Jahr einem deutlich ab.
Darüber hinaus führte eine Statintherapie nur zu einem geringen, klinisch unbedeutenden Anstieg der medianen Kreatinkinase-Werte um das 0,02-Fache der oberen Grenze des Normalwerts.
Erfreulicherweise ergab die Analyse, dass der geringe Anteil der Patienten, bei denen durch Statine verursachte Muskelbeschwerden auftraten, seine Statinbehandlung in der Regel nicht abbrach. Dies deutet darauf hin, dass die meisten Fälle von statininduzierten Muskelbeschwerden klinisch leicht verlaufen.
Dennoch betonen die Autoren, dass das Risiko von Muskelbeschwerden durch Statine durchaus ernstzunehmen und gegen den kardiovaskulären Nutzen der Therapie abzuwägen sei. In Anbetracht ihrer Ergebnisse fordern sie jedoch eine Überprüfung der empfohlenen Strategien für den Umgang mit Muskelschmerzen während einer Statintherapie und eine Überarbeitung der Informationen in den Beipackzetteln der Statin-Präparate.
»Die Vorstellung, dass Statine häufig Muskelschmerzen verursachen können, hat sich bei einigen Patienten und Ärzten hartnäckig gehalten. Unsere Studie bestätigt jedoch, dass das Statin nur selten die Ursache für Muskelschmerzen bei denjenigen ist, die Statine einnehmen«, sagt Mitautor Professor Dr. Colin Baigent von der Universität Oxford. Es solle daher in Fällen, in denen Patienten im Rahmen einer Statintherapie über Muskelschmerzen berichten, zunächst davon ausgegangen werden, dass die Symptome höchstwahrscheinlich andere Ursachen haben. Die Statintherapie sollte fortgesetzt werden, bis andere mögliche Ursachen ausgeschlossen sind.
Auch Dr. Christina Reith, eine weitere Mitautorin von Oxford Population Health, ergänzt: »Wir hoffen, dass diese Ergebnisse Ärzten und Patienten helfen werden, fundierte Entscheidungen darüber zu treffen, ob sie eine Statintherapie beginnen oder fortsetzen sollen, und zwar in Anbetracht der bekannten signifikanten Vorteile der Statine bei der Verringerung des Risikos von Herz-Kreislauf-Erkrankungen«.
Die Autoren räumen natürlich auch einige Einschränkungen ihrer Studie ein, darunter das Fehlen konsistenter Daten darüber, ob Muskelbeschwerden zum Abbruch der Behandlung führten. Außerdem gab es keine zuverlässigen Informationen über einige relevante Begleiterkrankungen oder andere Medikamente, die das Risiko für das Auftreten von Symptomen beeinflussen können.
In einem verlinkten Kommentar schreibt Dr. Maciej Banach, Professor für Kardiologie an der Medizinischen Universität Lodz in Polen, der nicht an der Studie beteiligt war: »Das Problem der statinassoziierten Nebenwirkungen wird seit mindestens 15 bis 20 Jahren diskutiert, und trotz überwältigend beruhigender Daten aus RCT, Kohortenstudien und Registern sind Nebenwirkungen immer noch die Hauptursache für den Abbruch einer Statintherapie. Im Jahr 2022 ist das Problem nicht auf einen Mangel an Daten, Diagnosekriterien, wirksamen Therapien oder Behandlungsempfehlungen zurückzuführen, sondern auf eine unzureichende Aufklärung von Ärzten und Patienten.«