So entstand Europas Gen-Mix |
Theo Dingermann |
03.01.2025 07:00 Uhr |
Bislang dachte man, dass die Anpassung an lokale Umweltbedingungen die Genetik der Europäer prägte. Das ist aber nicht ganz richtig. / © Getty Images/imaginima
In umfangreichen Analysen von alten Genomen haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vor einiger Zeit die Migrationsmuster und die damit einhergehenden genetischen Veränderungen in Europa über Tausende von Jahren nachgezeichnet. Im Fachjournal »Nature« erschienen dazu im vergangenen Jahr vier zusammenhängende Publikationen – alle aus der Forschergruppe um Professor Dr. Eske Willerslev von der britischen University of Cambridge. Ein News-Artikel der Journalistin Sara Reardon, der ebenfalls in der Fachpublikation erschien, fasst die komplexen Ergebnisse der Arbeiten zusammen.
DOI 10.1038/d41586-024-00024-9
DOI 10.1038/s41586-023-06865-0
DOI 10.1038/s41586-023-06862-3
DOI 10.1038/s41586-023-06705-1
DOI 10.1038/s41586-023-06618-z
Demnach ist die bisherige Annahme, dass genetische Unterschiede hauptsächlich durch die Anpassung an lokale Umgebungen entstanden sind, so nicht haltbar ist. Vielmehr zeigen die Daten, dass Migrationswellen eine entscheidende Rolle gespielt haben, die aktuelle genetische Ausstattung der Europäer zu formen. Archäologische Funde in Kombination mit modernen Sequenziermethoden haben die neuen Erkenntnisse ermöglicht.
Der Aufwand, den die Forschenden betrieben, war gewaltig. Sie bestimmten DNA-Sequenzen von 317 antiken Skeletten, die hauptsächlich aus Europa stammen und zwischen 3000 und 11.000 Jahre alt sind. Diese Daten kombinierten sie dann mit mehr als 1300 bereits existierenden Genomdaten antiker Eurasier.
Dabei ging es um einen Vergleich der identifizierten genetischen Marker der archäologischen Proben hinsichtlich ihres Alters und der Fundorte. So gelang es, eine europäische Familiengeschichte und Migrationskarte zu erstellen, die die Veränderung der Genexpression und der damit assoziierten Phänotypen im Laufe der Zeit nachzeichnet.
Zudem fand ein Abgleich der antiken Genomdaten mit den genetischen Profilen von 410.000 modernen Individuen aus der UK Biobank statt. Mithilfe statistischer Verfahren korrelierten die Forschenden Genotypen, Migrationsmuster und phänotypische Merkmale wie Körpergröße, Hautfarbe sowie Anfälligkeit für Krankheiten.
Aus der Studie lassen sich klar die drei bedeutendsten Hauptmigrationswellen nach Europa erkennen. Jäger und Sammler begannen vor etwa 45.000 Jahren nach Europa zu wandern, Bauern, die aus dem Nahen Osten kamen, folgten vor etwa 11.000 Jahren. Und schließlich erreichten auch Hirten aus den Steppen Westasiens vor etwa 5000 Jahren Europa. Die Steppen-Hirten wanderten eher in den nördlichen Teil Europas, während die Bauern hauptsächlich in den Süden und Westen zogen.
Diese Einwanderer prägten dann die genetischen Variationen. Bislang ging man davon aus, dass die Anpassung an lokale Umweltbedingungen die Genetik der Europäer prägte. So sind beispielsweise die größere Körpergröße und hellere Hautfarbe der Nordeuropäer auf einen dort höheren Anteil an Steppen-Hirten zurückzuführen.
Ebenso überrascht waren die Wissenschaftler, dass die einwandernden Bevölkerungsgruppen die bestehenden Populationen teilweise vollständig verdrängten und sich nicht mit der dort lebenden Bevölkerung vermischten. Darauf deutet die Geschwindigkeit hin, mit der beispielsweise die Transformation in Regionen wie Dänemark vonstatten ging.
Darüber hinaus brachten die Einwanderer bestimmte genetische Varianten mit, die mit einer erhöhten Anfälligkeit für Krankheiten wie Diabetes und Alzheimer zusammenhängen. Die Daten legen nahe, dass genetische Risiken für Diabetes und Alzheimer auf eine frühere Jäger- und Sammlerpopulation zurückgehen.
Ein erhöhtes Risiko für die Autoimmunkrankheit Multiple Sklerose war ein unfreundliches Mitbringsel der westasiatischen Hirten. Ob diese Veranlagung zu einem evolutionären Vorteil führte, indem die Widerstandsfähigkeit gegen Infektionskrankheiten erhöht war, lässt sich nur spekulieren.
Andererseits deutet die Studie an, dass die Laktosetoleranz bereits vor der Ankunft Hirten als heterozygote Mutation auf einem der beiden Chromosomen angelegt war. Diese Mutation könnte dann mit der Verfügbarkeit von Milch durch die Hirtentiere eine präadapative Rolle gespielt haben, die zur schnellen Entwicklung der Laktosetoleranz geführt hat.
Jetzt planen die Forschenden, ähnliche Untersuchungen auch für andere Regionen der Welt durchzuführen, um die genetische Geschichte des Menschen umfassender rekonstruieren zu können.