Schlechtes Zeugnis für die Ampelpolitik |
Wollen Politik und Öffentlichkeit »wachrütteln« (von links): ABDA-Präsidentin Gabriele Regina Overwiening, Martin Hendges, Vorstandsvorsitzender der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung (KZBV), Andreas Gassen, Vorstandschef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) und Gerald Gaß, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Krankenhausgesellschaft, heute bei einer Pressekonferenz in Berlin. / Foto: PZ/Orth
Für die Arzneimittelversorgung hat sich in jüngster Zeit nichts zum Guten gewandelt – im Gegenteil. Zu diesem Schluss kam heute ABDA-Präsidentin Gabriele Regina Overwiening, die gemeinsam mit Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Martin Hendges, Vorstandsvorsitzender der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung (KZBV) sowie Gerald Gaß, Vorstandschef der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG), in Berlin eine Bilanz der aktuellen Gesundheitspolitik zog.
Erst vor einem halben Jahr hatten Overwiening, Gassen und Hendges gemeinsam einen Kurswechsel in der Gesundheitspolitik gefordert. Doch seitdem hat sich die Versorgungssituation aus Sicht der Spitzenvertreter weiter verschlechtert. Um den Ernst der Lage und den Schulterschluss der Akteure im Gesundheitswesen deutlich zu machen, beteiligte sich diesmal auch DKG-Chef Gaß an der gemeinsamen Pressekonferenz in der Bundeshauptstadt.
Einig waren sich die Spitzenvertreter in der Sorge darum, ob die Menschen in Deutschland auch in Zukunft noch flächendeckend und wohnortnah Ärzte, Zahnärzte, Krankenhäuser und Apotheken finden werden. Ohne unmittelbare politische Weichenstellungen seien dramatische Versorgungslücken zu erwarten. Scharfe Kritik übten die Spitzenvertreter an der »immensen Bürokratielast«, die unter der Ampelregierung nochmal zugelegt habe. Sie forderten die Politik auf, die Versorgung spürbar zu entbürokratisieren.
Stark gefährdet sehen die Spitzenvertreter auch die Freiberuflichkeit als Kernelement der ärztlichen, zahnärztlichen und apothekerlichen Versorgung sowie die Trägervielfalt in der Krankenhauslandschaft. Anstatt die bestehenden Strukturen zu stärken und zu stabilisieren, wolle Bundesgesundheitsminister Professor Karl Lauterbach (SPD) in überflüssige neue Strukturen investieren wie beispielsweise Gesundheitskioske. Notwendige Mittel für die Versorgung fehlten damit.
Auf Befremden stieß der Politik- und Kommunikationsstil des Ministers. Die Spitzenvertreter forderten Lauterbach auf, endlich mit denjenigen zu sprechen, die die Versorgung täglich gestalteten – und das, bevor die kommenden Gesetzentwürfe ins parlamentarische Verfahren gingen. Die Lösungsvorschläge lägen auf dem Tisch und die Bereitschaft zu Reformen sei vorhanden.
Über die schwierige Situation der Apotheken und die Nöte der Apothekerinnen und Apotheker informierte ABDA-Präsidentin Overwiening. »Die Apothekenzahl befindet sich seit Jahren im Sinkflug. Dadurch müssen immer mehr Patientinnen und Patienten weitere Wege zu ihrer Apotheke zurücklegen. Allein im vergangenen Jahr sind rund 500 Apotheken weggefallen – das entspricht der Apothekenzahl in Thüringen«, warnte Overwiening.
Die Lieferengpässe belasteten die Teams in den Offizinen nach wie vor stark. Daran habe auch das sogenannte Lieferengpass-Gesetz (ALBVVG) nichts geändert. »Die Apothekenteams tun alles, um die Patientinnen und Patienten trotz der Engpässe zu versorgen«, betonte Overwiening. Sie bemängelte, dass flexible Austauschmöglichkeiten, die sich während der Pandemie bewährt hätten, zum großen Teil wieder gestrichen worden seien. In dieser angespannten Lage sei zum Jahresbeginn die flächendeckende Einführung des E-Rezepts gestartet, die von Systemausfällen überschattet werde. Auch hier unterstützten die Apothekenteams die Menschen beim holprigen Start, trotz des zehrenden Fachkräftemangels. Dabei sei es eigentlich Aufgabe der Politik, dafür zu sorgen, dass das System sicher und stabil funktioniere, so Overwiening.
Die ABDA-Präsidentin kritisierte, dass das Apothekenhonorar seit elf Jahren nicht angepasst wurde. Im Gegenteil, die Ampelkoalition habe es sogar gekürzt. Sie habe den Eindruck, dass das Bundesgesundheitsministerium die Versorgungsrealität aus dem Blick verloren habe. Es fehle das Wissen, was in den Apotheken wirklich ablaufe. »Deshalb braucht es den direkten Austausch, bevor ein Eckpunktepapier vorgelegt wird«, forderte Overwiening. Rund 160.000 Menschen arbeiteten in den Apotheken, gemeinsam bildeten sie eine »starke Säule der Versorgung«.
Lauterbach wisse um die prekäre Lage der Apotheken, doch statt sie zu unterstützen, kündige er »Scheinreformen« an. »Seine aktuellen Ideen bedeuten für die Bevölkerung weitgehende Leistungskürzungen«, so Overwiening mit Blick auf die erwartete Apothekenreform. So würden durch eine Honorar-Umgestaltung noch mehr Menschen ihre Apotheke verlieren. Und in den geplanten »Scheinapotheken« würde die Expertise der Apothekerinnen und Apotheker fehlen. Doch die Apothekenteams würden das nicht hinnehmen. »Wir werden uns mit gebündelten Kräften dagegen stemmen«, kündigte Overwiening an.
Auch die Ärzte sehen nicht viel Gutes an Lauterbachs aktueller Politik. Angesichts der Probleme hätten sich die vier Verbände zusammengeschlossen, um auf den Ernst der Lage aufmerksam zu machen. »Die Gesundheitsversorgung geht gerade den Bach runter«, warnte KBV-Chef Gassen. Es sei zu befürchten, dass noch mehr Praxen schließen müssten. Die Politik müsse sich endlich ihrer Verantwortung stellen. So sei es beispielsweise dringend notwendig, auch in ambulante Strukturen zu investieren.
Trotz »endloser Gesprächskreise« konstruiere Lauterbach »Reformen am Reißbrett, die aber an der Realität vorbeigehen«, kritisierte Gassen. So seien die Pläne, wonach Hausarztpraxen künftig einmal jährlich eine Versorgungspauschale für chronisch Kranke bekommen sollen, nicht umsetzbar. »Die Praxis an der Ecke wird zum Auslaufmodell«, warnte Gassen, und forderte verlässliche Rahmenbedingungen.
KZBV-Chef Hendges sieht angesichts der aktuellen Probleme die zahnärztliche Versorgung in Gefahr. »Niederlassungsfeindliche Rahmenbedingungen halten junge Zahnärztinnen und Zahnärzte davon ab, sich niederzulassen«, warnte er. Eine große Belastung stelle auch die »überbordende Bürokratie« dar.
Scharfe Kritik übte Hendges daran, dass mit dem GKV-Finanzstabilisierungsgesetz die strikte Budgetierung bei der Parodontitis-Behandlung wiedereingeführt worden sei. Damit habe Lauterbach dieser präventiven Therapie »den Boden entzogen«, die Zahl der Behandlungsfälle sei bereits stark zurückgegangen. Parodontitis nehme unter anderem Einfluss auf schwere Allgemeinerkrankungen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes und rheumatische Erkrankungen. Bleibe sie unbehandelt, entstünden dadurch hohe Folgekosten, die das Gesundheitssystem belasteten. Der KZBV-Chef forderte daher, die Budgetierung hierbei zurückzunehmen. Zudem mahnte er an, dass noch immer keine gesetzliche Regulierung für Medizinische Versorgungszentren, die von versorgungsfremden Investoren betrieben werden, geschaffen wurden.
DKG-Chef Gaß wies erneut auf akute Finanznöte der Krankenhäuser hin. Diese müssten wegen mangelnder Erlöse derzeit »Geld in die Hand nehmen«, um die Versorgung sicherzustellen. Mehr als die Hälfte der Kliniken planten Stellenreduktionen, um Insolvenzen abzuwenden. Zu befürchten sei eine schleichende Entwicklung, dass Menschen gerade auf dem Land spürten, dass die soziale Daseinsfürsorge schlechter werde.
Die Krankenhausstrukturreform befürworte die DKG zwar grundsätzlich, leider sei sie aber ein »Blindflug«, bemängelte Gaß. Die Vorhaltefinanzierung werde in der derzeitigen Ausgestaltung die Ziele nicht erreichen. Er forderte Gesundheitsminister Lauterbach auf, bei der Reform Expertinnen und Experten aus dem Krankenhausbereich zu Rate zu ziehen.
ABDA, KBV, KZBV und DKG forderten Lauterbach und die Ampelkoalition auf, die Versorgung der Patientinnen und Patienten wieder in den Fokus zu nehmen. Dazu seien nachhaltige Reformen nötig, die die bestehenden Versorgungsstrukturen stärkten. Konstruktive Gestaltungsvorschläge seien dem Minister seit Langem bekannt. »Die Stimmung der Leistungserbringer ist auf einem absoluten Tiefpunkt; sie stoßen an ihre Grenzen und können die Versorgung, wie die Patienten sie bisher gewohnt waren, nicht mehr länger leisten«, betonten die Spitzenvertreter.
Ein Kurswechsel sei dringend notwendig. Bleibe dieser aus, wollen die vier Organisationen in den kommenden Wochen verstärkt an die Öffentlichkeit gehen. So wollen sie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Gesundheitswesen und vor allem die breite Öffentlichkeit auf unterschiedlichen Kanälen verstärkt über die Folgen dieser Politik für die Versorgung von rund 84 Millionen Patienten in Deutschland aufklären.
Man habe nicht vor, Autobahnauffahrten zu blockieren, versicherte DKG-Chef Gaß. Um Veränderungen zu erreichen, sieht er vor allem die Länder als Adressaten. Overwiening, Gassen und Hendges kündigten an, die Bevölkerung mit großflächigen Plakaten auf die Probleme der Gesundheitsversorgung aufmerksam zu machen. Die ABDA wolle zudem weiterhin Bundestagsabgeordnete einladen und sie über die Situation aufklären, erläuterte Overwiening. »Der heutige Tag ist ein Zeichen, dass wir Wege finden, unser Anliegen in die Öffentlichkeit zu tragen«, bekräftigte Overwiening.