Prothese als Hingucker |
Jennifer Evans |
24.08.2020 09:00 Uhr |
Auffällige Prothesen haben sich als Eisbrecher in der Kommunikation bewährt. Außerdem können die Träger so ihrer Persönlichkeit Ausdruck verleihen. / Foto: Anatomic Studios/Emelie Strömshed
Menschen, denen Gliedmaßen fehlen, bleiben bei der Wahl ihrer Prothese oft nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie wählen einen realistischen oder einen funktionalen Ersatz. Dabei stellt sich also in erster Linie die Frage, ob sie den Verlust kaschieren möchten oder auf die deutlich auffälligere Variante mit mehr technischen Features setzen. Um dieses Dilemma für die Betroffenen zu erleichtern, haben sich zuletzt immer mehr Designer und Unternehmen zusammengeschlossen, um sogenannte expressive Prothesen zu entwickeln. Dahinter verstecken sich Design-Objekte, die vor allem die Individualität und Identität des Trägers unterstreichen sollen. Auch sollen Mitmenschen dieses Ersatzkörperteil als eine Art Accessoire wahrnehmen. Unternehmen wie die Anatomic Studios im schwedischen Malmö beispielsweise haben sich auf solche originellen Kreationen spezialisiert.
Die Hoffnung, die außerdem mit der neuen Bewegung in diesem Bereich einhergeht, ist, dass die Träger eine entspanntere Einstellung zu ihrem eigenen Körper entwickeln und sich die gesellschaftliche Stigmatisierung gegenüber einer solchen Behinderung verringert. Welche kulturellen Aspekte beim Tragen auffälliger Prothesen eine Rolle spielen, hat Anna Vlachaki, Doktorandin an der Design School der englischen Loughborough University, genauer unter die Lupe genommen.
Vlachakis Studie gehen zwei Forschungsprojekte voraus, an die sie anknüpft. Zu dem einen veröffentlichte das Plymouth College of Art in Südengland in einer wissenschaftlichen Publikation »Making Futures« im Jahr 2018 einen Beitrag. Die Untersuchung beleuchtet die Kooperation zwischen Entwicklern und Trägern von Prothesen. Das Ergebnis: Sind amputierte Menschen von Beginn an in den Design-Prozess einbezogen und können ihre individuellen Modelle mitgestalten, stellt dies für sie weit mehr als eine positive Erfahrung dar. Der zusätzliche Gewinn liegt auf psychologischer Ebene. Denn neben ihren funktionalen Aufgaben kreieren die Design-Stücke einen Ausdruck von Identität sowie ein positives Image von Behinderung und stärken das Selbstbewusstsein.
Die zweite Studie einer schottischen Forschungsgruppe, die 2015 im »International Journal of Design« erschien, hat sich damit befasst, ob eher realistisch gestaltete oder nicht-realistisch wirkende Prothesen besser ankommen. Mit Blick auf die gesellschaftliche Wahrnehmung von Behinderung überrascht das Resultat kaum. Demzufolge empfinden Menschen generell jene Ersatz-Gliedmaßen als attraktiver, die das menschliche Erscheinungsbild am stärksten nachbilden. Anders sehen das allerdings die Träger selbst. Sie bevorzugen Modelle, die Robotern stärker ähneln und die ihnen im Alltag am meisten Funktionalität bieten.
An dieser Stelle kommen Vlachaki zufolge nun die expressiven Prothesen ins Spiel. Sie könnten dabei helfen, die gesellschaftliche Einstellung zu verändern. Oft würden beim Thema Behinderung und Beeinträchtigung negative Konnotationen mitschwingen, und je nach Kultur, ist die Haltung zu Prothesen unterschiedlich. So gibt es in individualistischen Gesellschaften generell weniger Stigmatisierung. In kollektiven Gesellschaften dagegen, wo die Harmonie der Gruppe und weniger die Individualität zählt, sieht das anders aus.
Den kulturellen Effekt hat Vlachaki zusammen mit anderen Wissenschaftlern der Loughborough University in ihrer Untersuchung noch etwas genauer betrachtet und dafür mit Trägern aus beiden Gesellschaftsformen gesprochen. Großbritannien diente ihr dabei als Vertreter für eine individualistische - und Griechenland für eine kollektive Gesellschaft. Dabei hat sich gezeigt, dass expressive Prothesen für alle Befragten attraktiver waren und das Selbstbewusstsein der Träger im Vergleich zu konventionellen Modellen deutlich gestärkt haben. Und mehr noch: Die Design-Stücke haben sich als nützlich für ihre Träger erwiesen, um mit Nicht-Trägern ins Gespräch zu kommen und mit ihnen über die Bedeutung des Verlusts von Gliedmaßen zu sprechen.
Speziell im Vereinigten Königreich haben sich die Accessoires nicht nur als Eisbrecher in der Kommunikation bewährt, sondern auch als Möglichkeit, ein persönliches Statement zu setzen und deutlich mehr positive Reaktionen von Mitmenschen zu erfahren. »Vorsicht ist im Fall kollektiver Gesellschaften geboten«, warnt allerdings Vlachaki. Expressive Prothesen könnten dort die Stigmatisierung anheizen. In Griechenland geht es also insbesondere darum, das Unbehagen im Umgang mit Prothesen-Trägern aus der Welt zu schaffen, ohne dabei mit zu originellen Kreationen noch mehr Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Das ist ein schmaler Grat, weil es dort im Sinne des Gruppengedankens wichtiger für den Einzelnen ist, möglichst nicht zu sehr aufzufallen.
Grundsätzlich haben Vlachakis Forschungen gezeigt, dass expressive Prothesen positive Effekte sowohl auf Selbstbewusstsein der Träger als auch auf deren Akzeptanz in der Gesellschaft haben. Der nächste Schritt wäre, so hofft die Wissenschaftlerin, dass sich vor diesem Hintergrund künftig noch mehr Designer angesprochen fühlen und sich der Gestaltung weiterer Medizinprodukte annehmen.