Prinzip des Hörens auf molekularer Ebene aufgeklärt |
Theo Dingermann |
19.10.2022 14:00 Uhr |
Ohne die mechanosensorische Transduktion in unseren Ohren könnten wir überhaupt nichts hören. / Foto: Adobe Stock/shocky
Eine Dysfunktion des Hörsystems aufgrund von Verletzungen, Umwelteinflüssen oder genetischen Mutationen ist mit einem Hörverlust verbunden. Schwerhörigkeit und Taubheit betreffen weltweit mehr als 460 Millionen Menschen mit geschätzten Kosten von jährlich 750 bis 790 Milliarden US-Dollar (762 bis 802 Milliarden Euro) durch nicht behandelten Hörverlust. Umso erstaunlicher ist es, dass Details des benötigten Rezeptors bisher im Dunkeln lagen.
Beim Hören wird ein breiter Bereich von Schallwellenfrequenzen und -amplituden dadurch erkannt, dass die mechanische Schwingungsenergie in elektrische Signale umgewandelt wird, die zu einer Membranpotenzialdepolarisation führt. Forschenden um Dr. Hanbin Jeong und Dr. Sarah Clark am Vollum Institute der Oregon Health and Science University in Portland, USA, ist es nun gelungen, die Struktur und den Funktionsmechanismus des Komplexes dieser sogenannten mechanosensorischen Transduktion (MT) aufzuklären.
Das war eine große Herausforderung. Denn die Isolierung des MT-Komplexes aus Wirbeltieren oder die Herstellung eines funktionellen Komplexes über rekombinante Methoden waren bisher erfolglos geblieben. Die komplexe Reinigung aus diesen nativen Quellen ist besonders wegen der geringen Anzahl von Komplexen pro Tier herausfordernd. So schätzt man, dass pro Säugetier-Cochlea nur etwa 3 × 106 dieser Komplexe vorkommen. Vergleicht man damit die Anzahl der Photorezeptoren im visuellen System einer Maus, die auf etwa 4 × 1014 pro Auge geschätzt wird, erkennt man leicht das Problem.
Die Entscheidung der Forschenden, zur Lösung des Problems auf den Modellorganismus Spulwurm (Caenorhabditis elegans) auszuweichen, erwies sich als kluger Schritt. Denn dieser besitzt auch einen MT-Komplex, der dem des Menschen sehr ähnlich ist. Die Forschenden konnten diesen aus den Würmern isolieren und die molekulare Struktur mithilfe von Einzelpartikel-Kryoelektronenmikroskopie mit annähernd molekularer Auflösung aufklären.
Wie die Wissenschaftler berichten, besteht der zweifach symmetrische Komplex aus je zwei Kopien der porenbildenden TMC-1-Untereinheit, des calciumbindenden Proteins (CALM-1) und des transmembranen Innenohrproteins (TMIE). CALM-1 steht in Kontakt mit der zytoplasmatischen Seite der TMC-1-Untereinheiten, während sich die Single-Pass-TMIE-Untereinheiten an der Peripherie des Komplexes befinden. Eine Untergruppe von Komplexen umfasst zusätzlich ein einzelnes Arrestin-ähnliches Protein, das Arrestin-Domänenprotein (ARRD-6), das an eine CALM-1-Untereinheit gebunden ist.
»Dies war das letzte sensorische System, für das die grundlegende molekulare Maschinerie bisher unbekannt geblieben war«, sagt der Seniorautor der Studie, Professor Dr. Eric Gouaux, in einer Pressemitteilung der Oregon Health and Science University anlässlich der Publikation der Ergebnisse in »Nature«.
Durch Einzelpartikelrekonstruktionen und Molekulardynamiksimulationen konnten die Forschenden zeigen, wie der MT-Komplex die Membrandoppelschicht verformt. Diese Ergebnisse zeigen sehr plausibel, dass Lipid-Protein-Wechselwirkungen eine entscheidende Rolle bei dem Mechanismus spielen, durch den die mechanische Kraft der Schallwellen den Ionenkanal steuert.
Die Ergebnisse könnten den Weg zur Entwicklung neuer Behandlungsmethoden für Taubheit weisen. »Die Struktur lässt sofort erkennen, wie man Defekte in diesem System ausgleichen könnte«, sagt Gouaux gegenüber dem Nachrichtenportal »Genetic Engineering & Biotechnology News«. Und er ergänzt: »Wenn eine Mutation zu einem Defekt im Übertragungskanal führt, der Hörverlust verursacht, ist es möglich, ein Molekül zu entwerfen, das in diesen Raum passt und den Defekt korrigiert. Oder es kann bedeuten, dass wir geschwächte Interaktionen stärken können.«