Prävention kann soziale Ungleichheit verstärken |
Lukas Brockfeld |
15.11.2024 10:00 Uhr |
Der Gesundheitswissenschaftler Thomas Gerlinger bei seinem Vortrag am Mittwoch. / © IKK e.V./Screenshot
Am Mittwoch wurde auf der »30. Plattform Gesundheit« über verschiedene Ansätze in der Gesundheitsprävention diskutiert. Ein Themenschwerpunkt war dabei das geplante »Gesundes Herz Gesetz« (GHG). Die Veranstaltung wurde vom Verein IKK, der Interessenvertretung von Innungskrankenkassen auf Bundesebene, organisiert.
Thomas Gerlinger, Professor für Gesundheitswissenschaften an der Universität Bielefeld, behandelte in seinem Impulsvortrag einige grundlegende und wenig beachtete Probleme in der Prävention von Gesundheitsproblemen. Eingangs erklärte der Wissenschaftler, dass es in Deutschland bei fast allen großen Volkskrankheiten einen deutlichen sozialen Gradienten gebe. »Die Krankheitshäufigkeit und auch die Sterblichkeit ist eindeutig abhängig vom Einkommen, vom Bildungsstatus und von der Stellung im Beruf«, so Gerlinger.
Menschen mit wenig Einkommen und niedriger formaler Bildung hätten eine deutlich geringere Lebenserwartung und würden deutlich jünger schwer erkranken. Demnach werden Männer, die über weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens verfügen, im Schnitt nur 71 Jahre alt. Männer mit mehr als 150 Prozent des Medianeinkommens dürfen dagegen auf 79,6 Lebensjahre hoffen.
»Es kann keinen Zweifel daran geben, dass wir es mit einem hohen Maß an sozialer Ungleichheit bei den Gesundheitschancen zu tun haben«, betonte Gerlinger. Als Ursache machte der Wissenschaftler die Kombination von hoher Belastung und geringen Ressourcen aus. Arme Menschen seien häufiger schädlichen Umwelteinflüssen ausgesetzt und hätten gleichzeitig eine geringere Gesundheitskompetenz, beispielsweise wenn es um das Wissen über die Schädlichkeit von Tabakkonsum geht.
Eine gelungene Präventionsarbeit müsse daher vor allem auf eine Verbesserung der Lebensverhältnisse abzielen. Es sollten verstärkt Maßnahmen ergriffen werden, die beispielsweise für gesündere Arbeitsbedingungen sorgen und die Menschen vor schädlichen Umwelteinflüssen schützen.
Doch auch die Bekämpfung von Armut und die Stärkung der sozialen Sicherheit sei wichtig. »Wir wissen, dass egalitäre Gesellschaften gesündere Gesellschaften sind. Daher haben die skandinavischen Länder bei geringeren Gesundheitsausgaben eine höhere Lebenserwartung«, erklärte der Wissenschaftler. Gesundheit müsse also auch in anderen Politikfeldern wie der Sozialpolitik oder der Umweltpolitik mitgedacht werden.
Präventionsarbeit, die vor allem auf eine Veränderung des individuellen Verhaltens abzielt, sei dagegen weniger effektiv, da gerade vulnerable Gruppen nicht gut erreichbar seien. »Stellen Sie sich vor, Sie machen einen Kochkurs in einem Stahlwerk«, führte Gerlinger aus. »Wer geht da hin? Die gesunde, schlanke Sekretärin. Der übergewichtige Stahlkocher, der überspitzt gesagt zwei Schweinshaxen am Tag isst, geht da eher nicht hin.« Die Krankenkassen hätten bereits viel für die Individualprävention getan, doch damit würden vor allem die Menschen erreicht, die ohnehin gesund leben.
»Eine mögliche Folge einer Fokussierung auf eine individuelle Verhaltensprävention kann sogar eine Verstärkung der sozialen Ungleichheit von Gesundheitschancen sein«, stellte der Wissenschaftler klar. In einer gelungenen Präventionsstrategie müssten die Ressourcensteigerung und Senkung von Belastungen unbedingt ineinandergreifen.
Programme zur Früherkennung von Krankheiten hätten laut Gerlinger zwar ihre Berechtigung, brächten aber ähnliche Probleme mit sich. Auch hier würden benachteiligte Menschen und viele Risikogruppen nur schlecht erreicht. Früherkennungsprogramme könnten also ebenfalls zu einer Verstärkung von sozialer Ungleichheit führen.
»Das Kernproblem moderner Prävention ist das Phänomen, das auch als ›Darwinsches Gesetz der Prävention‹ bezeichnet wird«, erklärte Gerlinger. Verschiedene Präventionsansätze wie die Beseitigung sozialer Probleme, Arzneimitteltherapien und Verhaltensgebote (zum Beispiel Informationen für eine gesündere Ernährung) stünden in Konkurrenz zueinander. Dabei setzten sich vor allem die Präventionsinstrumente durch, die von der Gesellschaft die geringsten Veränderungen verlangen. »So begründet sich ein Trend zur Fokussierung auf Individual- und Verhaltensprävention sowie der Medikalisierung von sozialen Problemen«, klagte der Wissenschaftler.
Am Ende seines Vortrags kam Gerlinger kurz auf das geplante »Gesundes-Herz-Gesetz« zu sprechen. »Dem Gesetz fehlt ein Verständnis der sozialen und strukturellen Ursachen von Herz-Kreislauf-Erkrankungen«, urteilte der Gesundheitswissenschaftler. Stattdessen bräuchte es eine Strategie, die auf die Schaffung gesundheitsgerechter Lebensverhältnisse abzielt. Dafür seien ein realistischer Blick auf die Grenzen von Individualprävention sowie eine stärkere Fokussierung auf vulnerable Gruppen nötig. Aufgrund des Auseinanderbrechens der Ampelkoalition ist die Umsetzung des GHG jedoch fraglich.