Politik
Auch acht Jahre nach Wiedervereinigung kommen Ostdeutsche und
Westdeutsche eher schlecht als recht miteinander aus. In den neuen
Bundesländern macht sich eine DDR-Nostalgie breit; manche
Westdeutsche denken, daß die alten Bundesländer ohne die finanzielle
Belastung der Wiedervereinigung weit besser dastünden, als sie es heute
tun. Der Schriftsteller Günter de Bruyn wirft seinen Landsleuten vor, durch
eine rosa Brille auf ihre Vergangenheit zu blicken.
"Die Erinnerung ist ein Filter, in dem das Schlechte hängen bleibt," sagte de Bruyn in
einem Vortrag während der Eröffnung des Pharamacons Westerland. "In der
Erinnerung holen wir uns das, was in der Gegenwart fehlt." Der Blick zurück veredle
die Vergangenheit.
De Bruyn sieht hierin den wesentlichen Grund für die Unzufriedenheit vieler
Ostdeutscher mit ihrer Situation nach der Wiedervereinigung. Aber auch die
Westdeutschen sehen ihre Vergangenheit nicht objektiv. Auch im Westteil der
geteilten Republik sei nicht alles so rosig gewesen, wie es heute mancher darstelle.
Der Grund für eine solche Verklärung sei meist Bequemlichkeit. De Bruyn: "Es ist
schöner sein Leben zur Legende zu machen, als sich mit den eigenen Fehlern,
Schwierigkeiten und Mißerfolgen auseinanderzusetzen."
Für die meisten Westdeutschen ist die wieder steigende Sympathie der
Ostdeutschen für das Leben in der DDR nicht nachvollziehbar. Nach de Bruyns
Einschätzung ist die DDR-Nostalgie eine Folge unrealistischer Erwartungen der
Ostdeutschen und erfüllbarer Versprechen Westdeutscher Politiker und Medien.
In den Jahren nach dem Zusammenschluß hätten die Ostdeutschen schmerzlich
erfahren, daß sich die Lebensumstände nicht in der erwarteten und versprochenen
Geschwindigkeit verbesserten. Das Leben wurde schwieriger, da der Staat sich aus
manchen Bereichen zurückgezogen habe. Mit ihren Problemen, etwa der
Arbeitslosigkeit, fühlten sich die Ostdeutschen alleingelassen.
Da es diese Schwierigkeiten früher nicht gab, erscheine die Vergangenheit in der
DDR rosig, da es dort die aktuellen Schwierigkeiten nicht gegeben habe. Die großen
Probleme aus dieser Zeit würden ausgeblendet, so de Bruyn, weil eben nur das
Schöne aus der Vergangenheit in Erinnerung bleibe. Die Vorteile der Gegenwart,
werden dagegen ignoriert. Es sei unzweifelhaft, daß sich in den neuen Bundesländern
der Zustand der Wohnungen und Straßen, die Qualität der Autos oder die
Freizügigkeit bei Reisen objektiv verbessert habe.
Ein weiterer Grund, warum sich Ost- und Westdeutsche immer noch nicht
näherkommen, sind Vorurteile und Verallgemeinerungen über den jeweils anderen.
Sie seien nicht aus den Köpfen zu vertreiben, beklagt de Bruyn, weil eine
vorgefertigte Meinung das Leben einfacher mache. Ein solides Vorurteil entbinde
von einer differenzierteren Sicht, und mit einigem Geschick lasse sich jede Situation
so darstellen, daß die Erwartung erfüllt werde.
Den Medien wirft der Schriftsteller vor, die Kluft zwischen Ost und West zu
vergrößern. Presse, Fernsehen und Radio suchten nach dem Trennenden zwischen
Ost und West, stellten es verzerrt und übertrieben dar. Dies sei eine fatale
Entwicklung, denn "das Fremdheitsproblem ist zu ernst, als das man es übertreiben
dürfte."
Wirklich zusammenwachsen könnten die Menschen in Deutschland nur, wenn sie
sich stärker auf ihre kulturellen und historischen Gemeinsamkeiten besinnen und
gleichzeitig mehr Verständnis für die unterschiedlichen Erfahrungen in den
vergangenen Jahrzehnten aufbrächten. De Bruyn: "Einheit bedeutet nicht
Einheitlichkeit." Pluralismus und Föderalismus sollten die Grundlage für das
Zusammenwachsen der Bundesländer und die nationale Identität der Deutschen sein.
Sich auf eine nationale Identität zu berufen, sei nicht die Vorstufe zum Nationalismus,
betonte der Schriftsteller. "Wir haben eine Sprache und eine Kultur, die uns
verbinden. Man darf das Nationale nicht den Nationalisten überlassen." Mit dem
Gedankengut von Alt- oder Neonazis habe dies nichts zu tun.
De Bruyn glaubt nicht, daß die Europäisierung das Zusammenwachsen von Ost- und
Westdeutschland überflüssig mache. Auch in einem Europa ohne Grenzen werden
die Nationalstaaten ihre Bedeutung haben. Die auf bürokratischem Weg entstandene
europäische Union biete keinen Ersatz für eine nationale Identität. Nach wie vor
werden sich die Menschen mit ihrem Herkunftsland identifizieren. "Europa rückt
zwar näher zusammen, aber die kulturelle und kreative Vielfalt bleibt erhalten."
PZ-Artikel von Daniel Rücker, Westerland
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