Politik
Stagnierende Einnahmen, steigende Ausgaben - auf diese kurze Formel läßt
sich bereits seit geraumer Zeit die miserable finanzielle Situation der
gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) bringen. Was liegt da näher, als die
Einnahmebasis zu verbreitern, sprich die Beitragsbemessungs- und die
Versicherungspflichtgrenze auf das Niveau der gesetzlichen
Rentenversicherung anzuheben?
Diesen Vorschlag macht beispielsweise die SPD-Bundestagsfraktion in ihrem
Sofortprogramm zur finanziellen Stabilisierung der GKV. Doch Experten aus dem
Bereich der privaten Krankenversicherung (PKV) warnen vor überzogenen
Erwartungen: Unterm Strich lohnten sich höhere Bemessungs- und Pflichtgrenzen für die
solidarisch finanzierte gesetzliche Krankenversicherung vermutlich nicht.
Keine Frage: Wenn PKV-Experten Probleme der GKV analysieren, dann steckt
dahinter oft auch Eigeninteresse. Dies ist besonders bei Überlegungen zur
Friedensgrenze zwischen GKV und PKV zu vermuten, sprich zur Höhe der
Versicherungspflicht- und Beitragsbemessungsgrenze in der GKV, die derzeit bei
monatlich 6150 DM im Westen und bei 5325 DM im Osten liegt. Denn je höher diese
Grenze ist, desto weniger potentielle Kunden haben die privaten Krankenversicherer.
So ohne weiteres von der Hand zu weisen sind die folgenden Argumente jedoch nicht.
PKV-Fachleute rechnen vor: Würde die Versicherungspflicht- und die
Beitragsbemessungsgrenze in der GKV auf das Niveau der gesetzlichen
Rentenversicherung angehoben, also auf 8200 DM im Westen und auf 7100 DM im
Osten, hätte das für die Krankenkassen vermutlich "nur" Mehreinnahmen von 3,65
Milliarden DM jährlich zur Folge. Diese Summe entspricht weniger als 0,25
Beitragssatzprozentpunkten. Zudem würde die GKV lediglich etwa 15000
Mitglieder/Versicherte zusätzlich gewinnen.
Die Argumente im einzelnen:
Durch die Anhebung der Pflichtgrenze wären etwa 880.000 Privatversicherte wieder
versicherungsspflichtig. Wird ein durchschnittliches monatliches Bruttoeinkommen von
7000 DM unterstellt, ergäben sich zusätzliche Beitragseinnahmen für die GKV von 9,7
Milliarden DM jährlich.
Den betroffenen Privatversicherten müsse dann aus verfassungsrechtlichen Gründen
(Vertrauensschutz) ein Befreiungsrecht eingeräumt werden, ähnlich wie es freiwillige
GKV-Mitglieder und PKV-Versicherte schon heute in Anspruch nehmen können, wenn
sie durch die alljährliche gesetzliche Erhöhung der Pflichtgrenze eigentlich wieder
GKV-pflichtig werden. Mache die Hälfte der 880 000 PKV-Versicherten von dem
Befreiungsrecht Gebrauch, reduzierten sich die zusätzlichen Einnahmen für die
Krankenkassen auf 4,85 Milliarden DM.
Mehreinnahmen von jährlich 2,75 Milliarden DM könnte die GKV von 1,7 Millionen
freiwillig versicherten Angestellten verbuchen, deren gesamtes Bruttoeinkommen dann
als Beitragsbemessungsgrundlage dienen würde. Sie müßten im Schnitt etwa 135 DM
pro Monat mehr zahlen. Hinzu kommen etwa eine Million weitere freiwillige
GKV-Mitglieder (Selbständige) mit einem Einkommen oberhalb der jetzigen
Bemessungsgrenze - ein Plus von jährlich 2,75 Milliarden DM.
Von den 350 000 Angestellten, die oberhalb der Bemessungsgrenze in der
Rentenversicherung verdienen, würden vermutlich etwa die Hälfte in die PKV
abwandern. Die Mindereinnahmen für die GKV lägen bei 2,2 Milliarden DM. Dem
stehen höhere Beitragseinnahmen von den verbleibenden 175000 Topverdienern von
etwa 0,55 Milliarden DM gegenüber.
Von den freiwillig in der GKV versicherten Selbständigen werden wegen der höheren
Bemessungsgrenze voraussichtlich ein Viertel in die PKV abwandern. Schätzungsweise
250000 Mitglieder weniger bedeuten in diesem Fall Mindereinnahmen für die
Krankenkassen von 3,1 Milliarden DM.
Die Leistungsausgaben der Krankenkassen ändern sich. Vermutlich würden vermehrt
gesündere Menschen die GKV verlassen und überdurchschnittlich viele Menschen mit
einem eher schlechten Gesundheitszustand in der GKV bleiben beziehungsweise
zugunsten der GKV von ihrem PKV-Befreiungsrecht Gebrauch machen. Unterstellt, die
GKV-Abwanderer verursachen im Schnitt Kosten von 4000 DM pro Versichertem
und Jahr, die GKV-Zuwanderer hingegen Ausgaben von 6000 DM, dann hätte das
Mehrausgaben für die Krankenkassen von 0,94 Milliarden DM zur Konsequenz.
Höhere Bemessungsgrenzen ziehen automatisch auch höhere Krankengeldzahlungen
nach sich. Daraus resultieren Mehrausgaben von bis zu einer Milliarde DM jährlich für
die Krankenkassen. Noch nicht berücksichtigt ist in dieser Modellrechnung aus dem
PKV-Bereich der Ankündigungseffekt: Bevor eine Erhöhung der Versicherungspflicht
und der Beitragsbemessungsgrenze auf das Niveau der Rentenversicherung
Gesetzeskraft erlangen würde, dürften zahlreiche freiwillig in der GKV versicherte
Angestellte in die PKV abwandern. Kommentar eines Experten der privaten
Krankenversicherung: "Eine Erhöhung der Grenzen wäre für die GKV deshalb
vermutlich sogar ein Nullsummenspiel."
PZ-Artikel von Hans-Bernhard Henkel, Bonn
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