Politik
Das Szenario hat sich
komplett gewandelt; der Fortschritt der letzten 16 Monate
war größer als der der letzten 16 Jahre. Dr. Hans
Jäger, Aids-Spezialist und Kongreßleiter der 6.
Münchner Aids-Tage, sprach von "erdrutschartigen
Verbesserungen" in der Behandelbarkeit der
HIV-Erkrankung. Wo vor wenigen Jahren noch der Kampf
gegen ein frühes, qualvolles Sterben im Vordergrund
stand, geht es jetzt um praktikable und gut verträgliche
(Langzeit-)Therapien, um Lebensqualität und
Zukunftsgestaltung.
Über 1700 Teilnehmer kamen vom 4. bis 6. Juli zu dem
Kongreß nach München, den das KIS (Kuratorium für
Immunschwäche) regelmäßig veranstaltet. Wie weit die
Therapie heute ist, zeigte bereits der Titel des ersten
Vortrages: Kann HIV geheilt werden? Noch vor wenigen
Jahren wäre die Frage undenkbar gewesen. Ein besseres
pathologisches Verständnis, der Routineeinsatz der
Viruslast als Prognosefaktor und zum Therapiemonitoring
sowie neue Reverse-Transkriptase- und insbesondere
Proteasehemmstoffe lassen die Chance auf Heilung
plausibel erscheinen.
Nach ersten Modellrechnungen müßte man die Viruslast im
Blut medikamentös über 3,1 Jahre konstant unter die
Nachweisgrenze drücken (derzeit 20 RNA-Kopien pro ml),
um HIV-1 zu eradizieren. Doch das ist theoretisches
"mathematical modelling", das von vielen
angezweifelt wird.
Sichtbar sind die Verbesserungen im klinischen Bild. Die
Sterblichkeitsrate ging 1996 um 25 Prozent zurück, für
1997 wird ein noch größerer Rückgang erwartet. sagte
Jäger vor der Presse. Der Aids-Demenz-Komplex ist heute
eine Rarität. Infektionen mit Cytomegalieviren oder
Mycobakterien sanken um bis zu 75 Prozent.
Opportunistische Infektionen kommen kaum noch vor,
bestätigte Dr. Eva Jägel-Guedes, die als
niedergelassene Ärztin in München HIV-Patienten
betreut. Völlig neu in den Schwerpunktpraxen sind
HIV-positive Patienten, die über Übergewicht klagen.
Trotz mittlerweile elf zugelassenen Arzneistoffen zur
Behandlung der Immunschwäche ist die Therapie noch nicht
optimal. Ziel ist die komplette Unterdrückung der
Virusreplikation mit kompakten, gut verträglichen und
einfach einzunehmenden Arzneistoffkombinationen,
erklärte Dr. Schlomo Staszewski vom
Universitätsklinikum Frankfurt.
Die heutigen Kombinationen erfüllen diese Anforderungen
nicht. Vermutlich sind nur 30 bis 50 Prozent der
Patienten in der Lage, das komplizierte Einnahmeschema
einer Dreifach-Kombination auf Dauer zuverlässig
einzuhalten. Die mangelhafte Compliance fördert massiv
die Resistenzbildung. Die Folge sind
"ausgebrannte" Patienten, die gegen alle
verfügbaren Therapeutika resistent sind, warnte Dr.
Jörg Gölz aus Berlin.
Raus aus der Präventionsfalle
Eine konsequente Dreifachtherapie hat auch Bedeutung für
die Prävention: Sie drückt die Viruslast im Sperma
unter die Nachweisgrenze. Möglicherweise sinkt damit das
Risiko der HIV-Übertragung. Immerhin infizieren sich
heute noch 1000 bis 2000 Menschen pro Jahr neu mit dem
HIV, vorwiegend homosexuelle junge Männer. Einhellig
wiesen die Fachleute auf die Gefahren von
Entwarnungsphantasien hin, euphorische Berichte über
Therapieerfolge wiegten viele Menschen in trügerischer
Sicherheit.
Die Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung in
Köln knüpft daher an ihre zehnjährige Erfahrung in der
Aids-Prävention an: "Weiter so, Leute" heißt
das Motiv der aktuellen Großplakatkampagne. Aus der
Schweiz stammt der Slogan, der die derzeitige Situation
der Prävention treffend beschreibt: Neue Medikamente
bringen Hoffnung für einige, Präservative Sicherheit
für alle.
PZ-Artikel von Brigitte M. Gensthaler, München
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