Politik
"Wir müssen uns Gedanken machen über Bildung und Erziehung am
Beginn des 21. Jahrhunderts. Das sind Schlüssel für individuelle
Lebenschancen, das ist aber auch so etwas wie der Wirtschaftsfaktor
Nummer eins." Mit diesen Worten mahnte die baden-württembergische
Kultusministerin Dr. Annette Schavan in ihrem Festvortrag anläßlich des
36. Pharmacon der Bundesapothekerkammer am 7. Juni in Meran zur
Nachdenklichkeit.
Lange hätten Experten eine bessere Bildungsqualität gefordert, seien aber stets
ausgelacht worden. Vielmehr haben Entscheidungsträger die wichtigsten Fragen der
Bildungspolitik tabuisiert, gleichzeitig unaufhörlich geklagt und Innovationen, die mit
einem höheren Stellenwert von Lernen und Leisten in unserer Gesellschaft zu tun
haben, nicht gewagt, sagte Schavan. Heute bemerke man endlich die Notwendigkeit
einer kulturellen Reproduktion, denn schließlich gehe es auch um die kulturelle
Weiterentwicklung unserer Gesellschaft.
Das Vertrauen in die Institutionen der Bildung aber auch in die Kraft des
erzieherischen Handelns sei geschwunden. Gleichzeitig werde jedem klar, daß alles
was mit Erziehung zu tun hat, zum zentralen Faktor für die Lebenschancen junger
Menschen geworden ist. Es wurde sehr lange der Eindruck erweckt, das Gelingen
der Erziehung entscheide sich am subtilen Verhältnis zwischen dem Zögling und dem
Erzieher, sagte Schavan. Heute wisse man, daß dieses Verhältnis in
Strukturbedingungen eingebettet sei, die sich auf das kulturelle Umfeld und
Generationenerfahrung beziehen.
Das Zwei-Generationen-Modell sei immer davon ausgegangen, daß sich die
Jüngeren an den Älteren abarbeiten, also das von ihnen gelernte in Frage stellen;
nach Meinung Schavans ein ganz natürlicher Vorgang. Die dritte Generation sei aber
immer außen vor geblieben. Man müsse sich also die Frage stellen, was im Kampf
der Jüngeren gegen die Älteren für die Enkelgeneration übrigbleibt. Deshalb gelte
auch für die Erziehung als Teil des Generationenvertrages ein neues Paradigma der
nachhaltigen Entwicklung.
Lernen muß so organisiert werden, daß dabei etwas Nachhaltiges herauskommt,
betonte die Referentin. Schule und Erziehung seien auch dazu da, ein gerechtes
Verhältnis zwischen den Generationen zu schaffen. Die Älteren dürften die Jungen
nicht "beherrschen".
Nach Auffassung Schavans haben die vielen kurzlebigen Reformen in der
Bildungspolitik nicht zu einer nachhaltigen Verbesserung geführt. Das deutsche
System sei teuer, verbrauche viele Ressourcen, halte dem internationalen Vergleich
jedoch nicht stand. In einem vereinten Europa müsse man aber wettbewerbsfähig
bleiben. Bildungsrelevantes Lernen und attraktive Lernmethoden seien gefragt. Bis
dato arbeite die Schule unter schweren Bedingungen. Sie könne jedoch nur
erfolgreich werden, wenn in der Bundesrepublik endlich die zentrale Bedeutung der
Bildung erkannt werde.
"Mentalität unserer Gesellschaft ist es, auf Erlebnis und Design zu setzten", monierte
die Kultusministerin. Schließlich forderten Eltern Klassenlehrer auf, Prüfungen ihrer
Zöglinge nicht auf Montage zu legen; freie Brückentage zwischen Feiertagen seien
eine Selbstverständlichkeit. Jetzt sei aber endlich eine neue Lust am Lernen und an
Leistung gefragt. Dabei müsse das Kind als Kulturneuling von seinen Eltern und
Erziehern intensiv betreut werden. "Wir müssen bereit sein, darüber Auskunft zu
geben, was für wichtig und wertvoll genommen werden muß." Nörgeln und
Pessimismus dagegen sei kontraproduktiv und ein Alptraum für junge Menschen.
Die Kultusministerin gab ein Plädoyer für die junge Generation. Diese sei nicht
bedenkenlos sondern nachdenklich. Sie habe längst erkannt, daß die Menschheit an
Grenzen stoße, die aber auch neue Chancen bergen. Jugendliche glaubten an
wichtige Attribute wie Ehrlichkeit, Hilfsbereitschaft, Treue und Pflichten. Sie seien
bereit, Verantwortung zu übernehmen. Erziehung als Teil des Generationenvertrages
bedeute also, Impulse zu geben und fordere von allen Generationen Kreativität und
Verantwortungsbewußtsein.
PZ-Artikel von Ulrich Brunner, Meran
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