Politik
Einigkeit über Selbstmedikation in der EU
Die europäischen Vertretungen von Ärzten, Apothekern und pharmazeutischer
Industrie haben in Brüssel ein gemeinsames Dokument vorgestellt, in dem
einheitliche Richtlinien für die Selbstmedikation in den EU-Staaten
festgeschrieben sind.
Das Dokument definiert Selbstmedikation als eigenverantwortliche Einnahme von nicht
verschreibungspflichtigen Arzneimitteln mit beratender Unterstützung durch die
Apotheker oder andere Heilberufler. Ausdrücklich wird erwähnt, daß Selbstmedikation
nur zur symptomatischen Behandlung leichter Erkrankungen geeignet sei und eine
Diagnose nur durch den Arzt erfolgen könne. Selbstmedikation sei auf die Dauer von
drei bis sieben Tagen zu begrenzen, bei länger anhaltenden Beschwerden müsse in
jedem Fall ein Arzt konsultiert werden. Außerdem müsse die Werbung für nicht
verschreibungspflichtige Arzneimittel den jeweiligen nationalen Richtlinien entsprechen.
Weiterhin weist das Papier darauf hin, daß Selbstmedikation bei schweren Schmerzen,
zu erwartenden Wechselwirkungen mit anderen eingenommenen Arzneimitteln und
gleichzeitig bestehenden psychiatrischen Problemen ungeeignet sei. Bei Kindern und
stillenden oder schwangeren Frauen sei besondere Aufmerksamkeit notwendig. Zu den
für die Selbstmedikation geeigneten Indikationen gehören nach Ansicht von Ärzten,
Apothekern und Industrie: Husten und Erkältung, allergische Rhinitis, Durchfall und
Erbrechen, Hämorrhoiden, Sonnenbrand sowie leichte Schmerzen und moderate
Hautprobleme.
Abgabe durch den Apotheker unverzichtbar
Vertreter der Apotheker, Ärzte und Industrie betonten, das Papier werde von allen
Parteien getragen, verantwortungsvolle Selbstmedikation sei nur möglich, wenn alle
Beteiligten zur Kooperation und zum Informationsaustausch bereit seien. Gérard Lupus,
Präsident der Pharmazeutischen Gruppe in der Europäischen Union (PGEU), stellte
fest, sichere Selbstmedikation erfordere in jedem Fall die qualifizierte Abgabe der
Arznei durch den Apotheker.
Auch die Ärzte sehen keine risikolose Alternative zum Vertriebsweg Apotheke.
Cormac Macnamara, Präsident der europäischen Vereinigung der Allgemeinmedziner
warnte davor, Arzneimittel im Supermarkt oder an der Tankstelle zu verkaufen. Hier
seien Medikamentenmiß- oder -fehlgebrauch programmiert. Die sichere
Arzneimittelabgabe sei nur in der Apotheke gewährleistet.
Professor Dr. Ernst-Dietrich Ahlgrimm, stellvertretender PGEU-Präsident betonte, bei
der Selbstmedikation nehme der Apotheker eine zentrale Rolle ein, die von ihm
weitreichende Fähigkeiten bei der Beratung der Patienten erfordere. Deshalb habe der
beratende Ausschuß bei der EU initiiert, daß bei der pharmazeutischen Ausbildung in
allen Mitgliedsstaaten die Bereiche Kommunikation und Pharmakologie in Zukunft
stärker berücksichtigt werden. Das gemeinsame Dokument der drei Parteien sei ein
wesentlicher Schritt, einen EU-einheitlichen Standard für die Selbstmedikation
aufzubauen, so Ahlgrimm weiter. Im nächsten Schritt sollten auch die Verbraucher- und
Patientenorganisationen in den Prozeß einbezogen werden.
Patienten: Selbstmedikation kein Kostendämpfungsinstrument
Die anwesenden Vertreter dieser Organisationen begrüßten eine Förderung der
Selbstmedikation im Grundsatz, weil sie die Eigenverantwortlichkeit des Patienten
stärke. Das Bild vom passiven Kranken als ein Objekt medizinischer Behandlung sei
obsolet, betonte Christina Funnell von der britischen Vereinigung zur Qualitätssicherung
im Gesundheitswesen. Heute wüßten viele Menschen sehr genau über ihre Erkrankung
Bescheid, sie bräuchten Ärzte und Apotheker vor allem als Partner und nicht als
Autoritäten. Gleichzeitig warnten sie und andere Patientenvertreter aber davor, die
Selbstmedikation als reines Kostensenkungsinstrument zu mißbrauchen.
Selbstmedikation könne nur dann sicher und effizient sein, wenn die Menschen in der
EU ausreichend über die einzunehmenden Arzneimittel informiert seien, so Funnell
weiter. Zusammen mit anderen Patientenvertretern kritisierte sie die für Laien schwer
verständlichen Beipackzettel. Hierbei versprach Hugues Lanrezac, Präsident des
europäischen Verbandes der Arzneimittelhersteller, Abhilfe. Es sei das erklärte Ziel der
Industrie, Beipackzettel so zu gestalten, daß der Patient eine Arznei auch ohne
Erläuterungen von Arzt oder Apotheker einnehmen könne.
Bei den europäischen Behörden und Politikern stößt die Selbstmedikationsvereinbarung
auf viel Sympathie. Die stellvertretende Präsidentin des Europäischen Parlaments,
Ursula Schleicher (EVP/CSU), bezeichnete die Erklärung zur Selbstmedikation als
einen Beitrag zur Sicherstellung eines hohen Gesundheitsschutzes. Erstmalig hätten sich
damit die drei wichtigen Gruppen im Gesundheitsbereich auf ein gemeinsames Vorgehen
geeinigt, das den Bürgern mehr Verantwortung für ihre eigene Gesundheit übertrage.
Mehr Selbstmedikation bedeute auch mehr Verantwortung für die eigene Gesundheit,
sagte Pádraig Flynn, Mitglied der EU-Kommission. Dies stehe im Einklang mit dem
EU-Programm zur Förderung des Gesundheitszustandes der Menschen in den
Mitgliedsstaaten.
PZ-Artikel von Daniel Rücker, Brüssel
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