Politik
Die SPD hat in ihrem Wahlprogramm eine Reihe sozialpolitischer
Maßnahmen vorgestellt, die die Partei im Falle eines Wahlsieges bei der
Bundestagswahl am 27. September umsetzen will. Die PZ befragte den
SPD-Kanzlerkandidaten Gerhard Schröder zu den Plänen und ihren
spezifischen Auswirkungen auf die Qualität der Arzneimittelversorgung und
das Apothekensystem. Kurz vor Redaktionsschluß hat die SPD doch noch
auf unsere Fragen geantwortet.
PZ: Wenn nach dem 27. September Sie, Herr Schröder, an der Spitze der
neuen Bundesregierung stehen werden, welche Sofort-Maßnahmen werden Sie
bei den sozialen Sicherungssystemen und speziell im Gesundheitswesen
ergreifen?
Schröder: Das deutsche Modell von Wirtschaft und Gesellschaft ist zu einem
Erfolgsmodell geworden, weil es mit einer funktionierenden Sozialstaatlichkeit
gekoppelt war. Dieses Modell kann nur erfolgreich weitergeführt werden, wenn wir
die Sozialstaatlichkeit erhalten und zukunftsfest machen. Da ist in den vergangenen
Jahren manches falsch gemacht und vieles auch versäumt worden. Die Menschen
brauchen soziale Sicherheit, um die notwendige Umgestaltung von Wirtschaft und
Gesellschaft aktiv mitzutragen. Wir müssen bei den Menschen dieses Gefühl einer
verläßlichen sozialen Absicherung wiederherstellen, und wir müssen durch
Verläßlichkeit die Bereitschaft stärken, auch für Reformen und Herausforderungen
offen zu sein.
Deshalb wollen wir die unsinnigsten Regelungen der jetzigen Regierungsmehrheit
sofort aufheben. Beispielhaft nenne ich die Absenkung des Rentenniveaus und den
Wegfall der Zahnersatzleistungen für die ab 1979 geborenen jungen Menschen. Es
ist doch widersinnig, den Anstieg der Sozialhilfeausgaben zu beklagen, die Renten
durch Niveauabsenkung aber zum Teil auf oder unter das Sozialhilfeniveau
zurückzuführen. Und die Solidarität der Generationen sollten wir nicht dadurch einer
weiteren Belastungsprobe unterziehen, indem junge Menschen von
Zahnersatzleistungen ausgeschlossen werden.
PZ: Die demographische Entwicklung in der Bundesrepublik führt dazu, daß
immer mehr alte Bürger immer mehr Kosten verursachen. Wie kann Ihrer
Meinung nach das Versorgungssystem, das auf Solidarität basiert, ohne
Qualitätsverluste erhalten und weiter finanziert werden?
Schröder: Das Sozialversicherungsprinzip als Grundlage der Sicherung bei Alter,
Krankheit, Arbeitslosigkeit und jetzt auch Pflege hat sich grundsätzlich bewährt. Es
genügt vor allem auch deshalb den Ansprüchen an eine moderne und
marktwirtschaftlich verträgliche soziale Sicherung, weil es mit seiner Beitrags- und
Leistungsbezogenheit auf Selbstverantwortung und Eigenvorsorge baut. Deshalb
werden wir an diesem Prinzip festhalten. Wir werden prüfen, was an dem bewährten
Verhältnis von Solidarität und Individualität verändert werden kann, um den
Menschen neue Freiräume für eigenständige Vorsorge zu eröffnen, ohne aber Gefahr
zu laufen, daß weniger gutsituierte Menschen dabei unter die Räder kommen.
Gefahren drohen diesem System durch die ungleiche Entwicklung von
Beitragszahlern und Leistungsbeziehern. Dabei ist das größte Problem die
Massenarbeitslosigkeit und der damit einhergehende Ausfall erheblicher
Beitragssummen. Die wichtigste Aufgabe wird deshalb die Politik für mehr
Arbeitsplätze sein. In dieser schon angespannten Situation wurde den sozialen
Sicherungssystemen noch die zusätzliche und nicht hierhergehörende Aufgabe
übertragen, Kosten der deutschen Einheit zu finanzieren. Das war nicht nur sozial
ungerecht, sondern hat zu zusätzlichen Zahlungsschwierigkeiten geführt. Das müssen
wir ändern, um in den sozialen Sicherungssystemen die
Finanzierungsverantwortlichkeiten wieder klarzustellen. Und schließlich gehört zu
einer zukunftsgerichteten Reform - insbesondere im Gesundheitsbereich - die
weitere Stärkung der Elemente von Wirtschaftlichkeit und Wettbewerb.
PZ: Das deutsche Gesundheitswesen mit seinem unbestritten hohen
Qualitätsniveau kann künftig nur finanziert werden, wenn neue
Einnahmequellen erschlossen werden. Die jetzige Regierung hat den Weg der
höheren Zuzahlung zu Arzneimitteln gewählt. Welchen Weg würden Sie
einschlagen?
Schröder: Bei der Bundestagswahl geht es auch in dieser Hinsicht um eine
Richtungsentscheidung. Wir wollen die gesetzliche Krankenversicherung in ihren
Grundstrukturen erhalten, das heißt, als solidarisch finanziertes und umfassendes
Schutzsystem, das eine effiziente und qualitativ hochstehende gesundheitliche
Versorgung der Bevölkerung garantiert. Die Verlagerung von Kosten auf Kranke,
zum Beispiel durch die Arzneimittelzuzahlungen in der jetzt geltenden Höhe, ist der
Weg aus der Solidarität. Wir müssen - übrigens im Interesse aller Beteiligten, nicht
nur der Beitragszahler - im System selbst wirtschaftlicher und zielgerichteter werden
und damit Kosten einsparen.
PZ: Die SPD propagiert in ihrem Wahlprogramm ein Globalbudget als
kostenlimitierenden Faktor. Besteht mit einer solchen Maßnahme nicht aber
die Gefahr, das Prinzip der Qualitätssicherung in Diagnose und Therapie zu
schwächen oder ganz zu verlassen?
Schröder: In keinem anderen Wirtschaftszweig wird das Geschehen so maßgeblich
von der Anbieterseite bestimmt wie im Gesundheitssektor. Wir kommen, wenn wir
die Kosten und damit die Belastungen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern in
Grenzen halten wollen, an Budgetierungen und anderen Begrenzungen nicht vorbei.
Dabei wollen wir der Selbstverwaltung einen breiten Gestaltungsspielraum und damit
ein Mehr an Verantwortung zuweisen. Die Krankenkassen und die
Leistungserbringer sollen im Rahmen des Gesamtbudgets durch flexible
Vertragssysteme und Versorgungsformen Anreize erhalten, die vorhandenen
Ressourcen kundenorientiert zu steuern. Ich sehe nicht, daß bei einem solchen
Vorgehen Qualitätseinbußen die Folge sein werden. Vielmehr müssen auch die
Leistungsanbieter einsehen, daß sie ihre wirtschaftliche Basis nur dann sichern, wenn
das Gesundheitswesen für alle bezahlbar bleibt. Einbußen bei der Leistungsqualität
sind daher eher dann zu erwarten, wenn die überproportionalen Ausgabenschübe
nicht beherrschbar werden.
PZ: Die Krankenkassen sollen dem SPD-Programm zufolge
Gesundheitsleistungen per Einkaufsmodell vereinbaren können. Der
Mittelstand und damit auch die Apotheker befürchten, daß den Kassen auf
diesem Wege eine Monopolstellung zugesprochen wird, so daß künftig keine
Chancengleichheit mehr für Anbieter und Nachfrager besteht. Sind Ihrer
Meinung nach diese Befürchtungen unbegründet?
Schröder: Eine von mir geführte Bundesregierung wird sich der Reform des
Gesundheitswesens in Stufen nähern und hoffentlich auch weitgehend im Konsens
der Beteiligten. Wir werden zunächst einige der sogenannten Reformen der jetzigen
Koalition zurücknehmen, weil sie dem Solidarprinzip diametral entgegenstehen. Ich
denke dabei an die zahlreichen Zusatzbelastungen für Kranke und Versicherte. In
einem zweiten Schritt wollen wir eine bessere Abstimmung und Vernetzung auf der
Anbieterseite erreichen, um dadurch wirtschaftlicher und durchaus auch
patientengerechter agieren zu können. In diesem Zusammenhang wird die Stärkung
der häuslichen Versorgung ein wichtiges Ziel sein.
Erst in einem dritten Schritt wollen wir uns grundlegenden Neubestimmungen
widmen. Dazu gehören zum Beispiel Überlegungen über eine monistische
Finanzierung der Krankenhäuser und auch das von Ihnen angesprochene Thema der
Versorgungsformen und der Vertragsgestaltung. Ich halte Ihre Befürchtungen
hinsichtlich dieser Vorhaben für unbegründet, weil ich erstens eine
mittelstandsfreundliche Regelung haben möchte, die am besten über wettbewerbliche
Faktoren zu erzielen ist, also durch den weitgehenden Ausschluß monopolitischer
Strukturen; ich möchte zudem diese grundlegenden Reformen erst nach intensiven
Abstimmungen mit den Beteiligten realisieren.
PZ: Für Apotheker ist es besonders wichtig, die Einstellung Ihrer Partei zu den
bewährten Essentials der Berufsausübung zu erfahren. Dazu zählen
bekanntlich das Fremd- und Mehrbesitzverbot oder das Postulat, daß der
Vertriebsweg für Arzneimittel nur die Apotheke sein kann. Wie wollen Sie die
Rolle des Heilberufs Apotheker in der Gesellschaft künftig definiert wissen?
Schröder: Für mich stellen die Apothekerinnen und Apotheker eine wichtige Größe
bei der notwendigen Qualitätssicherung im Gesundheitswesen dar. Das gilt für die
vorgehaltenen Produkte ebenso wie für die Beratung der Kunden. Wir sind mit der
bisherigen Struktur der Arzneimittelversorgung sehr gut gefahren, und es gibt für
mich keine Veranlassung, diese aus den bewährten Händen zu nehmen. Die
Apotheke bleibt der richtige Ort für die Abgabe von Arzneimitteln, und die
Apothekerinnen und Apotheker sind die für diese Aufgabe am besten qualifizierten
Akteure.
Niemand darf aber auch die Augen vor den europäischen Entwicklungen
verschließen. Wenn unter dem Vorzeichen von mehr Wettbewerb auf diesem Weg
neue Vertriebsformen auf den Arzneimittelmarkt zukommen, dann sollten sich die
Apotheken darauf einstellen und ihre eigene Position im Wettbewerb stärken. Ich
denke zum Beispiel an Beratungsangebote, die vertrauensbildende Maßnahmen
gegenüber den Verbrauchern sind. Ich bin zudem der Auffassung, daß der fachlich
hochqualifizierte Apothekerberuf ein ganz zentrales Wettbewerbsargument ist. Und
nicht zuletzt werden Apothekerinnen und Apotheker in Zukunft stärker in die
Verantwortung für eine kostengünstige Arzneimittelversorgung genommen werden.
Diese Herausforderungen, die natürlich durch politische Beschlüsse untermauert
werden müssen, sollten im ureigenen Interesse von der Apothekerschaft
angenommen werden.
PZ: Der amtierende Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer hat sich in
einer ersten Stellungnahme zu den beiden Urteilen des Europäischen
Gerichtshofes vom 28. April zur Kostenerstattung von Leistungen, die im
Ausland erbracht wurden, eindeutig kritisch geäußert. Er sieht eine Gefahr für
die Qualität des deutschen Sozialversicherungssystems und für den Standort
Deutschland. Teilen Sie diese Auffassung?
Schröder: Der Bundesgesundheitsminister hat meines Erachtens zu Recht
festgestellt, daß die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs nicht auf die vom
Sachleistungsprinzip geprägte deutsche Krankenversicherung übertragbar sind. Auf
der anderen Seite ist gerade durch die Gesundheitspolitik dieser Bundesregierung
das Sachleistungsprinzip aufgebrochen worden, so daß ich die Position Seehofers
aufgrund seiner eigenen Politik als nicht wasserdicht ansehe. Das Urteil hat aber vor
allem auch gezeigt, daß der europäische Einigungsprozeß politische und
gesetzgeberische Konsequenzen auf allen Feldern erfordert, und das bedeutet, auch
die deutsche Krankenversicherung muß mit den Vorstellungen der europäischen
Sozialunion in Einklang gebracht werden. Das wird eine wichtige Aufgabe der
nächsten Legislaturperiode sein, und sie erfordert einen sachlichen
Diskussionsprozeß, in den Deutschland sein Interesse an der Aufrechterhaltung
seiner hohen Qualitätskriterien einbringen wird.
PZ: In den vergangenen fünf Jahren galt das politische Motto: Vorfahrt für
die Selbstverwaltung. Müssen die Leistungserbringer unter einer
SPD-Regierung damit rechnen, daß wieder mehr staatliche Reglementierungen
auf sie zukommen?
Schröder: Ich beantworte die Frage mit einem eindeutigen Nein. Wir wollen nicht
mehr, sondern weniger staatliche Reglementierungen. Es geht bei diesem
Politikbereich auch nicht um solche Reglementierungen, sondern um Vorgaben an
die Beteiligten, sich kostenbewußt und effizient zu verhalten. Ich wünsche mir, daß
unter diesen Vorgaben die Selbstverwaltung ihre Verantwortung sehr eigenständig
wahrnimmt.
PZ: In Niedersachsen haben Sie ganz persönlich das "Niedersachsen-Modell"
befürwortet, wonach im Sinne einer ökonomischen Arzneimitteltherapie die
Apotheker in den Therapieplan mit einbezogen werden. Könnte dieses Modell,
sprich die verantwortliche Beteiligung der Apotheker, ein Vorbild für
Deutschland sein?
Schröder: Ich habe schon darauf hingewiesen, daß die Apotheke verstärkt die
Stelle sein muß, in der fachlich qualifiziertes Personal qualitativ einwandfreie
Arzneimittel zu kostengünstigen Preisen abgibt. Mit dieser Aufgabe werden sich die
Apotheken im Wettbewerb behaupten und ihre Rolle im Gesundheitssystem festigen.
Das Niedersachsen-Modell will genau dieses, nämlich die Apotheker sollen durch
die verschreibenden Ärzte in die Lage versetzt werden, nach Vorgabe des
Arzneistoffes durch den Arzt und unter einigen weiteren Voraussetzungen ein
preisgünstiges und qualitativ einwandfreies Arzneimittel auszuwählen. Das ist für mich
angesichts der Qualifikationen der Apotheker eigentlich eine solche
Selbstverständlichkeit, daß ich mich frage, warum dieses Prinzip nicht schon immer
gegolten hat. Ich bin deshalb der Ansicht, daß für die weitere Reform des
Gesundheitswesens dieses Modell ein Orientierungspunkt sein sollte.
PZ: Die Heilberufe fürchten bei einem Regierungswechsel um die Existenz
ihrer berufsständischen Versorgungswerke, die sie eigenverantwortlich,
verantwortungsbewußt und auch erfolgreich aufgebaut haben. Ist diese Sorge
unberechtigt, oder haben Sie bereits konkrete Pläne mit dieser
Selbstverwaltungsinstitution?
Schröder: Die ausgedrückte Sorge um die weitere Existenz der berufsständischen
Versorgungswerke halte ich für unbegründet. Sie resultiert sicherlich aus der
grundsätzlich richtigen Überlegung, daß das System der solidarisch finanzierten
Rentenversicherung nur dann zukunftsfest bleibt, wenn es sich auf einen großen
Kreis von Versicherten stützt. Auf der anderen Seite sollen aber die bestehenden
Versorgungswerke nicht in Frage gestellt werden. Insofern sind die gesetzlichen
Voraussetzungen vor einiger Zeit bei der Novellierung des SGB VI geschaffen
worden. Dabei ist über eine sogenannte Friedensregelung kodifiziert worden, daß für
die Zukunft die Grenze zwischen gesetzlicher Rentenversicherung und
berufsständischer Versorgung unter Berücksichtigung der berechtigten Interessen
beider Systeme gefestigt wird. Das wollen wir beibehalten.
PZ-Artikel von Hartmut Morck und Gisela Stieve, Hannover/Eschborn
© 1997 GOVI-Verlag
E-Mail: redaktion@govi.de