Politik
Der Arzneimittelmarkt büßt seine Ausgabenstabilität ein und entfaltet
eine "besorgniserregende Eigendynamik", meint der Bundesverband der
Betriebskrankenkassen (BKK), der in der Gesetzlichen
Krankenversicherung (GKV) für Arzneimittelpolitik federführend ist. Die
Abteilung Arzneimittel des Verbandes leitet daraus weitgehende
Forderungen ab.
Zwar habe sich der Anteil der Arzneimittel an den Gesamtausgaben der Kassen
verringert, "gleichwohl steht mit Blick auf die bevorstehenden Ergebnisse in der
Arzneimittelforschung eine Trendumkehr unmittelbar bevor", warnen die
GKV-Vordenker in dem Papier "Arzneimittel-Vertragspolitik". Die ersten Stufen
der Gesundheitsreform 1989 und 1993 haben nach Einschätzung der Autoren zwar
Gestaltungselemente wie Festbeträge und Budgets gebracht, um die Entwicklung des
GKV-Arzneimittelmarktes "handhaben zu können". Die nachfolgende Gesetzgebung
aber habe diese positiven Ansätze nicht zu einem schlüssigen Gesamtkonzept
weiterentwickelt.
Die Preiskomponente der Arzneimittelausgaben zeige sich nach 50prozentiger
Marktdurchdringung mit Festbeträgen zwar "noch anhaltend stabil", wird festgestellt.
Auch die Zahl der Verordnungen verlaufe nach Abklingen der zunächst heftigen
Reaktionen auf die Einführung der Budgetierung tendenziell rückläufig. Das
eigentliche Problem liegt der BKK-Analyse zufolge in der Strukturkomponente, die
ein "beachtliches Ausmaß" gewinne. Verschiebungen im Verordnungsmix haben
demnach "seit 1992 um über 30 Prozent zugenommen, die auf einen Wechsel hin zu
teureren Medikamenten und einer Verlagerung zu teureren Darreichungsformen und
Packungsgrößen beruhen".
Die Autoren widersprechen der Annahme, die strukturellen Veränderungen seien
ausschließlich auf einen innovationsbedingten Wandel in der Therapie
zurückzuführen, "wie einzelne Marktforschungsunternehmen" glauben machen
wollten. Nur wenige neue, sehr spezifisch wirksame Arzneimittel bedeuteten
gleichzeitig auch einen therapeutischen Fortschritt, heißt es in dem Papier. "Die
meisten Neueinführungen setzen dagegen auf etablierten Therapieprinzipien auf,
erweitern lediglich das verfügbare Arzneimittelangebot und gestalten dies noch
unübersichtlicher."
Die Brisanz des Regelungsdefizits spitzt sich nach Meinung der BKK-Strategen zu,
wegen der zu erwartenden arzneimittelrechtlichen Zulassung einiger Präparate zur
Behandlung alters- oder krankheitsbedingter Begleitsymptomatiken. Weitaus mehr
sollten diese Mittel aber "Lifestyle-Bedürfnisse von zig Millionen Menschen
befriedigen", behaupten die Autoren. Auch deshalb liegt es für sie auf der Hand, daß
"die klinische Wirksamkeit eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für
eine therapeutisch relevante Zweckmäßigkeit" sei, wie sie das Sozialgesetzbuch
neben der Wirtschaftlichkeit - für die Kostenübernahme durch die GKV verlange.
Das BKK-Papier weist darauf hin, daß die Kassenspitzenverbände deshalb im Zuge
der 8. AMG-Novelle - vergeblich - gefordert hatten, bei der arzneimittelrechtlichen
Zulassung auch eine Bewertung des therapeutischen Stellenwertes vorzunehmen.
Dabei sollte die Zulassungsbehörde andere nichtmedikamentöse Therapieverfahren
vergleichend einbeziehen. Dieser Ansatz müsse auf europäischer Ebene
weiterverfolgt werden, so die Autoren. Auf EU-Ebene sei beabsichtigt, mit dieser
Zielsetzung ein "Europäisches Informationsnetzwerk für Arzneimittel" (MINE) zu
etablieren.
Sollte die Umsetzung allerdings scheitern, sei eine engere Kooperation der
nationalen Krankenversicherungssysteme um so dringlicher, geben die
BKK-Experten zu bedenken. Um den "höchsten Ansprüchen genügenden
Qualitätsstandard in der GKV weiterhin aufrecht zu erhalten", dürfe die
Leistungspflicht der Krankenkassen nicht überstrapaziert werden.
PZ-Artikel von Karl H. Brückner, Bonn
© 1997 GOVI-Verlag
E-Mail: redaktion@govi.de