Politik
Innerhalb der Bonner Regierungskoalition bestehen erhebliche
Meinungsverschiedenheiten, welche Konsequenzen aus dem Urteil des
Europäischen Gerichtshofes (EuGH) zum Bezug von Gesundheitsleistungen
aus anderen Staaten der Gemeinschaft zu ziehen sind. Der
FDP-Bundestagsabgeordnete Dr. Dieter Thomae machte bei einem von ihm
initiierten Expertengespräch in Bonn unmißverständlich deutlich, daß er der
restriktiven Interpretation des Bundesgesundheitsministeriums keinen
Bestand beimißt. Für die ABDA- Bundesvereinigung Deutscher
Apothekerverbände nahm Dr. Paul Hoffacker, Mitglied der
Geschäftsführung, am Meinungsaustausch teil.
Der Vorsitzende des parlamentarischen Gesundheitsausschusses, Thomae,
appellierte an Politiker, Leistungsanbieter und Krankenkassen, den deutschen
Behandlungsmarkt zu liberalisieren. Das dürfe nicht mit einer Aufgabe der sozialen
Schutzfunktion der gesetzlichen Krankenversicherung gleichgesetzt werden. Es gelte
in den nächsten zwei Legislaturperioden des Bundestages, das deutsche
Gesundheitswesen "europafähig" zu machen. Horst Seehofer werde seine restriktive
Auslegung des Luxemburger Richterspruches nicht durchhalten können. Es sei
ausgesprochen peinlich, wenn die Politik höchstrichterlichen Urteilen immer wieder
hinterher hechten müsse.
Thomae zeigte sich davon überzeugt, daß die Luxemburger Entscheidung auch
Konsequenzen für die deutsche gesetzliche Krankenversicherung und die
medizinische Versorgung nach sich ziehen werde. Maximal acht Jahre gibt der
Liberale dem Gesetzgeber Zeit, sich auf die in diesem Zusammenhang notwendigen
Systemkorrekturen einzustellen. Kurzfristig bedeute die Kostenerstattung bei
Zahnersatz und Brillen für die Bundesrepublik keine Katastrophe. Von der neuen
Freizügigkeit werde zunächst wohl nur die Bevölkerung in den Grenzregionen
Gebrauch machen.
Wesentlich härter gingen die Professoren Dr. Günter Neubauer, Mitglied des
Sachverständigenrates für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen, und Jürgen
Wasem mit der Reaktion des Bundesgesundheitsministers in Gericht. Sie ließen
übereinstimmend kein gutes Haar an der bisherigen Reaktion des CSU-Politikers.
Der Richterspruch werde in beachtlichem Ausmaß auf deutsche Verhältnisse
ausstrahlen. Mit seiner bloßen Abwehrreaktion mache es sich Seehofer zu leicht.
Deutliche Worte auch von Günter Neubauer: "Wer den Euro als gemeinsame
Währung der Staatengemeinschaft anstrebt, kann der Integration der
Gesundheitsmärkte zwangsläufig nicht ausweichen."
Nach dem Verlauf dieses FDP-Symposiums erscheint der Rundbrief des
Bundesversicherungsamtes an die seiner Aufsicht unterstehenden bundesweit
agierenden Ersatzkassen völlig unverständlich. Er gibt ausschließlich die restriktive
Position von Seehofer wieder. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofes zum
Bezug von Gesundheitsleistungen aus anderen Staaten der Europäischen Union gebe
den Krankenkassen keinen Anlaß, von der bisherigen Praxis zur Kostenübernahme
bei medizinischen Leistungen im Ausland abzuweichen. Die Behörde werde deshalb
bei den ihrer Aufsicht unterstehenden Kassen eine über das bisherige Maß
hinausgehende Übernahme von Kosten oder deren Erstattung beanstanden. Die
Ersatzkassen wollen dem Vernehmen nach der Interpretation des Amtes folgen.
PZ-Artikel von Jürgen Becker, Bonn
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