Politik
Mehr Eigenverantwortung für den einzelnen oder Stärkung der
Solidarität? Globale Budgetierung oder flexiblere Richtgrößen? Müssen die
Versicherten den medizinischen Fortschritt im wesentlichen alleine tragen,
oder bleibt es bei einer weitgehend paritätischen Finanzierung? In einer
Podiumsdiskussion zur Eröffnung des Sächsischen Apothekertags und der
Interpharm am 27. Juni 1998 in Leipzig wurde deutlich, daß auch in der
nächsten Legislaturperiode die Reformen im Gesundheitswesen
weitergehen werden.
Für eine generelle Abschaffung aller Budgets im Gesundheitswesen plädierte der
Vorsitzende des Gesundheitsausschusses im Bundestag, Dr. Dieter Thomae (FDP).
Budgetierung bedeute zwangsläufig auch eine nicht akzeptable
Leistungsbeschränkung. Es dürften weder den Kranken notwendige Leistungen
verwehrt noch der Wachstumsmarkt Gesundheitswesen als wichtiger
Wirtschaftsfaktor gefährdet werden.
Von dem Grundsatz der paritätischen Finanzierung müsse mit Rücksicht auf die
Lohnnebenkosten zumindest teilweise Abschied genommen werden. Thomae
plädiert dafür, die Leistungen von heute weiter je zur Hälfte von Arbeitgebern und
Arbeitnehmern finanzieren zu lassen; die durch Innovation hinzukommenden
Leistungen sollten dagegen von den Versicherten allein getragen werden. Ein
entsprechender Antrag werde auf dem parallel in Leipzig stattfindenden
FDP-Parteitag diskutiert.
Auch der CDU-Gesundheitspolitiker Wolfgang Lohmann will einen weiteren Anstieg
der Lohnnebenkosten verhindern und die Eigenverantwortung der Versicherten
stärken. Im Resultat muß dies auch zu einer Erhöhung des Arbeitnehmeranteils
führen. Zuzahlungen haben sich nach seiner Einschätzung in zweierlei Hinsicht
bewährt: zum einen als Beitrag zur Finanzierung und zum anderen als
Steuerungsinstrument. Patienten fragten sich jetzt häufiger, ob ein Arzneimittel
wirklich notwendig sei.
Die Sozialdemokraten teilen die Positionen der Regierung erwartungsgemäß nicht.
Wie der SPD-Gesundheitspolitiker Horst Schmidbauer ausführte, favorisiert seine
Partei weiterhin ein Globalbudget, daß den Rahmen für die Selbstverwaltung festlegt.
Zuzahlungen und Selbstbeteiligung lehnt Schmidbauer ab, da dadurch Krankheit
bestraft werde. Eine Abkehr von der paritätischen Finanzierung führe zu einer
"Amerikanisierung des deutschen Gesundheitswesens", so der SPD-Politiker. Die
Finanzierungslücke, die nach einer Abschaffung der Selbstbeteilung entsteht, möchte
er durch höhere Bemessungsgrenzen in der Sozialversicherung kompensieren.
Im Gegensatz zu seinem Parteikollegen Rudolf Dreßler lehnt Schmidbauer auch die
Amerikanisierung auf der Seite der Leistungserbringer ab. Er hält nichts von
Dreßlers Vorschlag, daß die Krankenkassen mit einzelnen Ärzten oder Apothekern
Verträge abschließen dürfen. Einkaufsmodelle seien "die Privatmeinung von Herrn
Dreßler", die sich in keinem Grundsatzpapier seiner Partei wiederfinde.
Der sächsische Kammerpräsident Hans Knoll kritisierte die Ziellosigkeit
gesundheitspolitischer Vorgaben. Seit der Wiedervereinigung habe es praktisch
jährlich eine neue Reform oder einen Richtungswechsel in der Gesundheitspolitik
gegeben. Er forderte von der Politik, daß sie geordnete, stabile Verhältnisse schaffe,
die den Leistungserbringern die Möglichkeit bieten, kooperativ die Versorgung der
Patienten zu organisieren.
Beruhigend für die Apotheker ist, daß alle Parteien an der bewährten Form der
Arzneimitteldistribution festhalten wollen. Unisono erklärten die Podiumsteilnehmer,
daß es keine Alternative zur Apotheke gebe, sondern angesichts zunehmender
Selbstmedikation der Apotheker als Berater des Patienten immer wichtiger werde.
Koch kritisiert unflexible Richtgrößen
Die Ankündigung, Arzneimittelbudgets zugunsten von Richtgrößen abzuschaffen,
wurde im vergangenen Jahr von den Apothekern einhellig begrüßt. Doch jetzt
scheint die Praxis zu zeigen, daß Richtgrößen nicht zwangsläufig eine Verbesserung
bringen. Sie erlauben zwar mehr Flexibilität, aber sie sind nicht per se flexibel. Die
Vorsitzende des sächsischen Apothekerverbandes Monika Koch kritisierte die in
Sachsen getroffenen Vereinbarungen vehement. Sie verfolgten alleine das Ziel, die
Arzneimittelausgaben zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) in
Ostdeutschland auf Westniveau zu senken.
Dabei werde jedoch vollkommen außer Acht gelassen, daß die höheren
GKV-Ausgaben strukturbedingt seien und nicht das Resultat mangelnden ärtzlichen
Kostenbewußtseins. So belegten Studien eindeutig, daß die Morbidität im Osten der
Republik deutlich über der im Westen liege. Besonders eklatant sei der Unterschied
bei Koronarer Herzkrankheit und Diabetes. Beide Krankheiten verursachen hohe
Arzneimittelkosten. Zudem seien in den neuen Bundesländern mehr Menschen von
der Zuzahlung befreit, was die GKV-Ausgaben weiter erhöhe.
Mehr Eigenverantwortung
Keinen Hehl daraus, welcher Partei er anhängt - nämlich der FDP -, machte der
Gastredner Professor Dr. Arnulf Baring, Berlin. In seinem Vortrag "Sozialpolitik auf
Irrwegen" beschäftigte er sich mit der Frage, ob Deutschland am Umbau seiner
Sozialsysteme scheitern werde.
Nach seiner Einschätzung krankt das deutsche Wirtschaftssystem und damit auch
das Sozialsystem an der mangelnden Bereitschaft der Menschen, die Verantwortung
für ihr Leben selbst zu übernehmen. Dem Staat würden dadurch Pflichten auferlegt,
die er nicht mehr erfüllen könne, so der Professor für Politologie. Der Staat müsse
sich aus bestimmten Aufgabenbreichen zurückziehen.
Dies sei kein Ausdruck neuer Herzlosigkeit, betonte Baring. Vielmehr sei das
weitreichende Sozialsystem der siebziger und achtziger Jahre angesichts des globalen
Wettbewerbs nicht aufrecht zu halten. Deutschland könne nur dann wieder zu den
Top-Wirtschaftsnationen aufsteigen, wenn das Sozialsystem nur noch eine
Grundsicherung leiste und der Rest eigenverantwortlich erbracht wird.
Das bedeute keinesfalls, daß sich der Staat vollständig aus der Verantwortung
stehlen dürfe. In anderen Bereichen, etwa der Bildung, sei er dringend gefordert.
Denn der Weg zurück in die Bel-Etage der Industrienationen führe über die
Forschung. Baring kritisiert die Bildungspolitik der vergangenen Jahre scharf. Die
Regierungen hätten der Verrottung der Universitäten tatenlos zugesehen. Zudem
bestehe Bildungspolitik in Deutschland ausschließlich aus einer Förderung in der
Breite. Mindestens genauso wichtig sei jedoch die gezielte Unterstützung von Eliten.
Spitzenforschung sei eben nur mit Spitzenkräften möglich.
An den Politikern, die diese Reformen eigentlich einleiten müßten, ließ der Politologe
kein gutes Haar. Ihnen fehle das Selbstbewußtsein, unpopuläre Entscheidungen zu
treffen und sie den Medien gegenüber zu vertreten. Denen wiederum bescheinigte
Baring mangelndes Verantwortungsbewußtsein. Anstatt die Menschen auf
schwierige Entscheidungen vorzubereiten, würden sie gezielt Stimmung gegen
notwendige Reformen machen.
Einen weiteren Hemmschuh will Baring in den Interessensverbänden ausgemacht
haben. Bei jeder Entscheidung, würden zahlreiche Lobbyisten auf den Plan gerufen,
die versuchten notwendige Veränderungen zu blockieren. Die erfolgreiche Blockade
funktioniere nur deshalb, weil auch in der Bevölkerung der Wunsch nach
Einschnitten in das Sozialsystem gering ist. Baring: "Die Menschen sind Zuteilungen
vom Staat gewöhnt, nicht Zumutungen." Letztlich ließe sich die Reform der
Sozialsysteme aber auch durch hartnäckige Blockade aufhalten, glaubt Baring.
PZ-Artikel von Daniel Rücker, Leipzig
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