Politik
Ebenso wie sich die
europäische Industrie im globalen Umfeld behaupten muß,
hat sich auch die Gesundheitspolitik dem globalen
Wettbewerb zu stellen. Um auf diesem Feld erfolgreich zu
sein, brauche Europa den Binnenmarkt, für dessen
Erreichung sich aber zum Beispiel nationale
Versicherungssysteme als großes Hemmnis auswirkten. Das
erklärte EU-Kommissar Dr. Martin Bangemann auf der 33.
Jahrestagung des Europäischen Fachverbandes der
Arzneimittelhersteller (AESGP) in Budapest. Eines der
wichtigsten Instrumente zur Verwirklichung des
Binnenmarktes sei die moderne Informationstechnologie.
Vorbehalte gegen dieses Instrument, das auch Deutschland
weiter konkurrenz- und wettbewerbsfähig mache, müßten
umgehend beseitigt werden.
Bangemann räumte ein, daß sich der Prozeß des
Zusammenwachsens zwar beschleunigt habe. Bis zur
Vollendung sei es aber noch ein langer Weg. Mit dem
Binnenmarktgedanken sollen nationale Strukturen
aufgebrochen werden. In den neuen Regelungen der
GKV-Neuordnungsgesetze sieht der EU-Kommissar die Chance
für die Versicherten, mehr Verantwortung für sich
selbst zu übernehmen. Der Trend zur Selbstmedikation
werde darüber hinaus dynamisiert.
Zum Teleshopping ist das letzte Wort noch nicht
gesprochen
Das letzte Wort in Sachen Teleshopping von
Arzneimitteln ist nach Bangemanns Darstellung noch nicht
gesprochen. Ein Fernabsatz sei aber ohne Werbung nicht
denkbar. Insofern mache das Werbeverbot für
verschreibungspflichtige Arzneimittel derzeit den
Fernabsatz dieser Ware unmöglich. Es sei aber
zweifelhaft, ob es bei der hohen technischen Autonomie
des Internets gelingen kann, ein solches globales Medium
mit Verboten und Richtlinien zu regulieren. Schließlich
würden nationale Regelungen immer zu kurz greifen. Für
Bangemann stellt sich die Frage, ob es politisch gewollt
sein kann, verantwortungsvolle nationale und europäische
Anbieter durch nationale Restriktionen zu benachteiligen
und vom Wettbewerb auszuschließen und damit anderen,
möglicherweise verantwortungslosen Konkurrenten den
Markt zu überlassen. Werbung sei Verbraucherinformation
im besten Sinne, so Bangemann.
Eine Grundidee des Binnenmarktes sei es, nationale
Strukturen aufzubrechen ohne überstürzte Entscheidungen
zu fällen, versicherte Bangemann. Schließlich erzeuge
der Wettbewerb der Systeme einen Harmonisierungsdruck,
der zu vernünftigen Lösungen führe.
Bangemann erinnerte daran, daß er mit diesen Gedanken
beim Wirtschaftsforum des DAV in Baden-Baden die
Apotheker nachdenklich gestimmt habe. Nach wie vor sei er
davon überzeugt, daß sich der Versandhandel für
Arzneimittel nicht explosionsartig entwickeln werde. Von
einem Stillstand der Entwicklung könne aber niemand
ausgehen. Die Apothekerschaft solle sich mit ihren
Kompetenzen einbringen. Derzeit sei die pharmazeutische
Beratung in deutschen Apotheken aber mehr eine Forderung
als Realität, so Bangemanns persönliche Erfahrung.
Die Selbstmedikation gewinne zunehmend an Bedeutung, so
daß die Politik dem Wunsch der Menschen, mehr
Eigenverantwortung für ihre Gesundheit zu übernehmen,
entgegenkommen muß. Dazu müsse ein klarer Rechtsrahmen
geschaffen werden, sowie die Verbraucherinformation und
die Markttransparenz verbessert werden.
Ungeachtet der Fortschritte könne aber noch nicht von
einem echten Binnenmarkt für Arzneimittel gesprochen
werden. "Die Hersteller denken noch immer zumeist in
nationalen Grenzen. Die Verbraucher orientieren sich
ebenfalls zumeist nur am heimischen Markt",
erklärte Bangemann. Eine Zersplitterung des
europäischen Arzneimittelmarktes werde langfristig
negative Folgen haben mit Blick auf Preise, Qualität der
Produkte, F- und E-Aktivitäten sowie die
Standortqualität. Die Vollendung des Binnenmarktes im
Arzneimittelbereich ist für Bangemann eine
wirtschaftliche Notwendigkeit. Man müsse sehen, daß der
internationale Wettbewerb steigt, internationale
Allianzen geschmiedet werden und sich immer mehr
Forschungszentren außerhalb Europas niederlassen. Damit
laufe Europa langfristig Gefahr, bei der wirtschaftlichen
und wissenschaftlichen Nutzung und bei den
Beschäftigungschancen abgekoppelt zu werden.
PZ-Artikel von Gisela Stieve, Budapest
Grenzenlos
Kommentar
Nationale Verbote, verschreibungspflichtige
Arzneimittel übers Internet anzubieten und dafür zu
werben, werden immer zu kurz greifen, solange andere
internationale Anbieter die grenzenlosen Möglichkeiten
des weltweiten Netzes (world wide web) im rechtsfreien
Raum oder auf der Grundlage ihrer Rechtsvorschriften für
diese Zwecke nutzen. EU-Kommissar Dr. Martin Bangemann
will in der Europäischen Kommission die Frage stellen,
ob es politisch gewollt sein kann, einheimische
Unternehmen durch nationale Restriktionen in ihrer
Geschäftstätigkeit zu behindern und vom Wettbewerb
auszuschließen. Oder könnte es sinnvoller sein,
internationale Empfehlungen für eine verantwortungsvolle
Werbung - auch für verschreibungspflichtige Arzneimittel
- auszusprechen, die dann auch Maßstab für
internationale Regelungen sein könnten?
Dr. Dagmar Walluf-Blume, Leiterin der Fachabteilung
Selbstmedikation im Bundesverband der Pharmazeutischen
Industrie (BPI), hält eine Erweiterung der
Möglichkeiten, für pharmazeutische Produkte zu werben
und den Verbraucher darüber zu informieren - mit dem
Ziel, die Arzneimittelsicherheit zu gewährleisten und
den Wettbewerb nicht zu verzerren - für
überdenkenswert. Am Rande der 33. Jahrestagung der AESGP
erklärte die Apothekerin, daß zunächst nur in den
Pharmaunternehmen selbst der umfassende Sachverstand
über ein Produkt vorhanden ist. Zu den
Zulassungsunterlagen gehören neben den Unterlagen zur
Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit auch die
Texte der Fachinformation und der Packungsbeilage. Mit
der Erteilung der Zulassung werden auch die Inhalte und
Formulierungen dieser Texte genehmigt. Wenn es den
Unternehmen möglich wäre, die genehmigten
Patienteninformationen auch über
verschreibungspflichtige Arzneimittel ins Internet zu
stellen, käme dies dem angestrebten Verbraucherschutz
ein gutes Stück näher.
Die Europäisierung und Globalisierung schreiten voran.
Industrieunternehmen, die nur an den heimischen Markt
denken, werden bald nicht mehr mitmischen. Die Apotheker
werden aber als Ansprechpartner und Anwalt der Patienten,
als Sachwalter der Arzneimittelsicherheit und als Partner
der Industrie gebraucht und werden, wie in Budapest
wiederholt betont wurde, bei dieser Entwicklung eine
Schlüsselrolle spielen. Diese Chance darf meiner Meinung
nach nicht verspielt werden.
Gisela Stieve
© 1997 GOVI-Verlag
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