Politik
Alle Bürger in der Europäischen Union können sich in einem anderem
EU-Land zahnärztlich behandeln lassen oder medizinische Hilfsmittel, wie
zum Beispiel Brillen, kaufen und dafür eine Kostenerstattung nach den
Versicherungssätzen ihres Heimatlandes beanspruchen. Dieses
Grundsatzurteil hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg am
28. April 1998 gefällt.
Bisher endeten die Gesundheitssysteme der einzelnen EU-Staaten weitgehend an
ihren Landesgrenzen. Das Urteil des EuGH öffnet die Grenzen für Kassenleistungen
auf der Grundlage des freien Dienstleistungs- und Warenverkehrs im Eurpäischen
Binnenmarkt. Dieses Urteil wird auch auf die Apotheken Auswirkungen haben
können.
Geklagt hatten zwei luxemburgische Staatsangehörige. Der eine hatte ein Brille im
Nachbarland Belgien erworben. Der andere wünschte eine Zahnregulierung für seine
minderjährige Tochter in der grenznahen deutschen Stadt Trier. In beiden Fällen
hatten die luxemburgischen gesetzlichen Krankenversicherungsträger eine Erstattung
der Kosten abgelehnt. Das Gericht entschied gegen die Krankenkassen und
zugunsten der Kläger. Es sah in den Fällen eine Verletzung der Grundsätze des
freien Dienstleistungs- und Warenverkehrs im Europäischen Binnenmarkt. Der
EuGH sieht vor allem in der Forderung der luxemburgischen Versicherungen, eine
vorhergehende Genehmigung für eine Behandlung im Ausland einzuholen, eine
Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs. In beiden Fällen stellten die
Erstattungen nach den landesüblichen Tarifen das finanzielle System der
luxemburgischen Krankassen nicht in Frage. Das Gericht unterstrich aber, daß die
Mitgliedsstaaten den freien Dienstleistungsverkehr in der medizinischen Versorgung
einschränken könnten, wenn ihr Finanzierungssystem beeinträchtigt würde.
Aufgrund dieses EuGH-Urteils können zukünftig auch deutsche Versicherte
Gesundheitsleistungen, einschließlich Arzneimitteln, im Ausland einkaufen, was
insbesondere im kleinen Grenzverkehr wahrgenommen werden wird.
In einer ersten Stellungnahme zum EuGH-Urteil erklärte Bundesgesundheitsminister
Horst Seehofer, daß das im Vertrag von Amsterdam ausdrücklich vereinbarte
Prinzip der Subsidarität den Mitgliedsstaaten uneingeschränkt die Kompetenz
beläßt, ihre Systeme der sozialen Sicherheit selbst zu organisieren. Organisations-
und Finanzverantwortung müßten in einer Hand liegen, das heißt in nationaler
Verantwortung bleiben. Das muß auch in Zukunft so gelten. Eine Harmonisierung
der Sozialversicherungssysteme bei unterschiedlicher wirtschaftlicher
Leistungsfähigkeit würde aus deutscher Sicht dazu führen, daß entweder das Niveau
der Sozialleistungen abgesenkt werden müßte oder ein Finanztransfer zur Anhebung
der Sozialstandards in den wirtschaftlich schwächeren EU-Staates nötig würde.
Nach Meinung des Ministers höhlen die beiden Entscheidungen des EuGH die
nationale Verantwortung für die Gestaltung und Finanzierung des jeweiligen
Gesundheitssystems aus.
Es dürfe nicht, so der Minister, über die Einräumung eines Vorranges des freien
Waren- und Dienstleistungsverkehrs zu einer faktischen Harmonisierung der sozialen
Sicherungssysteme kommen. Die mittelfristigen Auswirkungen der
EuGH-Entscheidungen auf das deutsche Gesundheitssystem können nach Meinung
des BMG eine erhebliche Verteuerung oder die Absenkung des Niveaus der
gesundheitlichen Versorgung sein. Außerdem würde das in Deutschland bestehende
Problem der Überkapazitäten im Gesundheitswesen drastisch verschärft und die
Qualität des deutschen Gesundheitssystems auf Dauer nicht zu halten sein.
Aus diesen Gründen hält Seehofer die Entscheidungen des EuGH für äußerst
problematisch. Welche konkreten Konsequenzen aus dem Urteil im nationalen und
im europäischen Recht zu ziehen sind, bleibe einer sorgfältigen Prüfung vorbehalten.
Diese erfolge in engem Kontakt mit allen am Gesundheitswesen Beteiligten. Ziel
müsse bleiben, daß eine schrittweise Auszehrung der deutschen
Krankenversicherung vermieden wird.
Zu positiveren Urteilen kommen in ersten Stellungnahmen die deutschen
Krankenkassen. Für den Bundesverband der Betriebskrankenkassen nahm
BKK-Sprecherin Gerda Strack Stellung: "Wir sind für Behandlungsfreiheit im
Ausland und damit für eine Liberalisierung. Wir werden unseren Versicherten helfen,
ihre neuen Freiheiten zu nutzen". Nach Auffassung des Bundesverbandes der
Innungskrankenkassen sind die Vergütungsstrukturen nach unten anzupassen, wenn
zu viele Versicherte ins EU-Ausland gehen und dort preisgünstigere Leistungen
einkaufen.
In einer ersten vorläufigen Stellungnahme der ABDA-Bundesvereinigung Deutscher
Apotehkerverbände stellte Präsident Hans-Günter Friese heraus, daß mit diesem
Urteil unter Umständen Erwartungen beim Patienten geweckt werden könnten, die
nicht gerechtfertigt sind. Für den Patienten wird sich nach Meinung der ABDA nichts
ändern. Er wird auch bei einem Kauf eines Arzneimittels im Ausland die Zuzahlung
von neun, elf oder 13 Mark zu leisten haben. Die Apotheken im grenznahen Bereich
stünden zwar in einem gewissen Wettbewerb mit den ausländischen Apotheken,
dem würde sich das deutsche Apothekenwesen mit seiner international anerkannt
hohen Leistungsfähigkeit mit Selbstbewußtsein stellen. "Auf keinen Fall werden wir
es hinnehmen, wenn das Urteil von interessierten Kreisen zum Anlaß genommen
wird, Versicherte zur Nutzung ausländischer Apotheken aufzufordern." Das Recht
des Patienten auf freie Apothekenwahl müsse auf jeden Fall garantiert bleiben. "Für
viele Patienten ist die Beratung in ihrer Apotheke unverzichtbar geworden. Mit uns
wird es keine Änderung an diesem Prinzip geben", betonte Friese.
Das Urteil sei auch nicht geeignet, die Diskussion um den Versandhandel neu zu
entfachen. Im Interesse der Arzneimittelsicherheit müsse es bei einem strikten
Verbot des Versandhandels bleiben. Ein Grundsatz, den auch der Gesetzgeber in
der 8.Novelle des Arzneimittelgesetzes erneut bekräftigen wolle.
Artikel von der PZ-Redaktion
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