Politik
Auch nach der
Verabschiedung des 2. GKV-Neuordnungsgesetzes (NOG2)
bleibt bei Ärzten und Apothekern, Krankenkassen und
Industrie Ungewißheit. Wie sich die neue Gesetzgebung
auf das Gesundheitswesen auswirken wird, darüber gibt es
bestenfalls Vermutungen. Auf einer Atrium-Veranstaltung
in Bonn am 20. und 21. März, diskutierten Vertreter der
Kassen, der Politik und der Leistungsanbieter, über die
Konsequenzen der Neuordnungsgesetze.
Weitgehende Einigkeit besteht darüber, daß die
beiden Neuordnungsgesetze die Probleme des
Gesundheitswesens nicht grundlegend lösen. "Die
Reform wird spätestens im Jahr 2000 fortgesetzt,
erwartet Professor Dr. Günter Neubauer,
Volkswirtschaftler an der Bundeswehruniversität in
München. Das Gesundheitssystem brauche eine grundlegende
Reform. Im europäischen Vergleich seien Staaten mit
beitragssatzfinanziertem Gesundheitssystem gegenüber
Staaten mit steuerfinanziertem im Nachteil, da die
Lohnnebenkosten im ersten Fall deutlich höher lägen.
Neubauer rechnet damit, daß in Zukunft zumindest Teile
des Systems über Steuern finanziert werden.
Das Problem liege auf der Einnahmenseite, so Neubauer.
Das heutige System könne mittelfristig nicht
funktionieren, da das Ziel der Beitragssatzstabilität
nicht einzuhalten sei. Die Gesundheitsausgaben steigen in
etwa parallel zum Bruttoinlandprodukt (BIP). Die für die
Kasseneinnahmen maßgebliche Lohnsumme steigt jedoch
wesentlich langsamer als das BIP. Der Ökonom plädiert
für eine Bindung des Beitragssatzes an das BIP und eine
Festschreibung des Arbeitgeberanteils. Gleichzeitig
sollte den Kassen ermöglicht werden, individuelle
Verträge mit den Leistungsanbietern abzuschließen.
"Dieses Jahr wird es keine Richtgrößen
geben." Vor zu großen Erwartungen auf dem
Arzneimittelsektor warnte Dr. Jürgen Bausch, zweiter
Vorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung in Hessen.
Er erwartet nicht, daß es Krankenkassen und Ärzten
problemlos gelingt, Richtgrößen festzusetzen. Da die
Kassen keine Freunde der Richtgrößen sind, werden sie
seiner Meinung nach das Verfahren zumindest nicht
forcieren. Durch eine aufwendige Prüfung der
Richtgrößen könnten sie das Verfahren in die Länge
ziehen. Selbst bei einem reibungslosen Procedere sei
frühestens im Frühling 1998 mit Richtgrößen zu
rechnen. Da im Gesetz stehe, daß das Arzneimittelbudget
durch Richtgrößen abgelöst werden soll, werde es
möglicherweise noch bis ins nächste Jahr hinein
bestehen bleiben, glaubt Bausch. Es gebe deshalb keinen
Grund für Ärzte, ihr Verordnungsverhalten zu ändern.
Mit seiner Einschätzung dürfte der KV-Vize nicht ganz
falsch liegen. Offensichtlich wollen die
Betriebskrankenkassen (BKK) ihr bereits 1994 entwickeltes
Richtgrößenmodell wiederbeleben. Der Vorschlag von
Karl-Heinz Schönbach vom Bundesverband der
Betriebskrankenkassen (BKK) erinnerte stark an das Modell
von 1994, daß auch eine Differenzierung nach
"unverzichtbaren", "unumstrittenen"
und "sonstigen Arzneimitteln" vorsieht. Sein
Argument: Nur wenn Richtgrößen stark differenziert
werden, taugen sie als Steuerungsinstrument. Peter
Dewein, Geschäftsführer beim Bundesverband der
pharmazeutischen Industrie, vermutet dagegen eine reine
Verhinderungstaktik der Kassen: "Wenn Richtgrößen
zu stark differenziert werden, kommen sie nicht. Das ist
wohl auch das Ziel des BKK-Bundesverbandes."
Wann und wie werden Apotheken über geänderte
Zuzahlungen informiert?
Unklarheit besteht zur Zeit auch noch darüber, wie
schnell und auf welchem Weg die Apotheken über die
jeweiligen Zuzahlungsänderungen der Krankenkassen
informiert werden. Wenn Kassen in Zukunft die
Patientenselbstbeteiligung auf Arzneimittel bei jeder
Beitragssatzerhöhung anheben, müssen die Apotheken mit
einer Fülle von Zuzahlungssätzen rechnen. Während Dr.
Manfred Zipperer, Ministerialdirektor im
Bundesministerium für Gesundheit, keine Schwierigkeiten
erwartet, räumten Kassenvertreter ein, daß es bislang
noch keine Regelung gebe.
Franz Knieps vom AOK-Bundesverband übte ebenfalls
Kritik: "Vielleicht veröffentlichen wir
Zuzahlungsänderungen bis auf weiteres erst einmal in den
Lokalzeitungen." Die Koalition habe diesen Punkt
bewußt nicht im Neuordnungsgesetz geregelt, da es dann
im SPD-dominierten Bundesrat zustimmungspflichtig
geworden wäre. Dr. Doris Pfeiffer, Leiterin der
Abteilung Verbandspolitik beim Verband der
Angestelltenkrankenkassen, forderte eine
partnerschaftliche Regelung zwischen Apothekern und
Krankenkassen, hatte aber noch keine Lösung parat.
Alle anwesenden Kassenvertreter zeigten sich überaus
unzufrieden mit dem neuen Gesetzeswerk. Keiner traut ihm
zu, langfristige Beitragssatzstabilität zu garantieren.
Einmütig wird die Ohnmacht der Kassen beklagt, die
Effizienz im System zu steigern. Der Grundsatz
"Vorfahrt für die Selbstverwaltung" sei in den
Neuordnungsgesetzen nicht wiederzufinden. Die Gesetze
"seien eine Bombe, die den Urhebern noch vor der
Wahl um die Ohren fliegen werde", so Knieps.
PZ-Artikel von Daniel Rücker, Bonn
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