Politik
Auch sieben Jahre nach der Wiedervereinigung gibt es noch
Verständigungsschwierigkeiten zwischen Ostdeutschen und Westdeutschen.
Im Vergleich zu den großen Problemen wie Arbeitslosigkeit oder
Staatsverschuldung seien die mit der Einigung verbundenen Schwierigkeiten
aber unbedeutend, sagte der ehemalige Fraktionsvorsitzende der Ost-SPD,
Professor Dr. Richard Schröder (SPD), auf der Eröffnungsveranstaltung des
23. BAK-Fortbildungskongresses am 15. September in Westerland.
Im Ausland werde die deutsche Einigung als störungsfrei vollendet angesehen. Im
Prinzip teilt Schröder diese Einschätzung. In Deutschland gebe es nur eine
verschwindend kleine Minderheit, die gegen die Wiedervereinigung sei, selbst in der
PDS befürworte kaum jemand ernsthaft eine erneute Trennung. Daß dies nicht
selbstverständlich ist, zeige ein Blick herüber zu unseren europäischen Nachbarn.
Schröder: "Die Deutschen haben sich nach dem Ende des Sozialismus
wiedervereinigt, die Tschechen und Slowaken haben sich getrennt."
Nach Vereinigungsrausch kam die DDR-Nostalgie
Trotz der generellen Übereinstimmung gebe es offensichtliche Spannungen zwischen
den EX-DDRlern und EX-BRDlern. Ein wesentlicher Grund für den Ärger von
Ostdeutschen über die Westler seien die hohen Erwartungen, die an die
Wiedervereinigung geknüpft wurden. Nach dem Fall der Mauer hätten viele
Menschen in der damaligen DDR erwartet, alles werde in kurzer Zeit besser.
Westdeutsche Politiker haben sie in ihrem Glauben auch bestärkt. Jetzt mache sich
Entäuschung darüber breit, daß der Aufschwung auf sich warten lasse. Das Resultat
sei eine sich ausbreitende DDR-Nostalgie, in der vieles aus der DDR-Zeit verklärt
werde. Menschen, die früher das SED-System abgelehnt hätten, suchten jetzt nach
den Vorzügen der DDR.
Schuld an der wirtschaftlichen Misere im Osten sei aber weder die
Wiedervereinigung im allgemeinen noch die vermeintlich schlechte Arbeit der
Treuhand, führte Schröder weiter aus. Die DDR sei bereits 1989 wirtschaftlich am
Ende gewesen. So gehe aus einem Gutachten, daß im Auftrag der DDR-Regierung
im Oktober 1989 erstellt wurde, hervor, daß die Staatsverschuldung katastrophal
hoch sei und die Produktivität der DDR-Wirtschaft nur 30 Prozent des Westniveaus
erreiche.
Keine Siegerjustiz
Auch der Vorwurf, daß die Westdeutschen in den Prozessen gegen
SED-Funktionäre und Mauerschützen Siegerjustiz ausüben sei unberechtigt. Bereits
1989 habe die DDR selbst begonnen, DDR-Spitzenfunktionäre zu verhaften. Da die
Volkskammer Bedenken hatte, die Prozesse von DDR-Richtern leiten zu lassen,
habe sie beschlossen, die Verfahren auf die Zeit nach der Wiedervereinigung zu
verschieben und die Angeklagten dann einer gesamtdeutschen Justiz zu übergeben.
Die Kritik einiger Verurteilter an der Justiz sei reine Stimmungsmache. Schröder:
"Egon Krenz will nicht wahrhaben, daß ihn das Volk der DDR abgesetzt hat."
Erschwert werde das Zusammenwachsen von Ost- und Westdeutschland auch
durch die unterschiedlichen Lebenserfahrungen in den beiden Systemen, sagte
Schröder. Die Menschen in der DDR hätten sich um der permanenten staatlichen
Indoktrinierung zu entgehen, stärker in ihr Privatleben zurückgezogen als die
Westdeutschen. Nur in einem ausgewählten Freundeskreis sei es möglich gewesen,
seine eigene Meinung offen zu vertreten. Aus diesem Grund hatten private
Beziehungen in der DDR wohl einen wesentlich höheren Stellenwert als in der
Bundesrepublik. Ostdeutsche beklagten deshalb, die Westdeutschen seien
gefühlskalt. Die Situation nach der Wiedervereinigung beschreibe ein Witz am
treffendsten: Ein Ostdeutscher und ein Westdeutscher treffen sich zufällig. Der
Ostdeutsche beginnt ein Gespräch mit dem Satz "Wir sind ein Volk". "Wir auch",
entgegnet der Westdeutsche.
Um die noch bestehenden Ressentiments zwischen Ostdeutschen und
Westdeutschen weiter abzubauen, sei es jetzt entscheidend, die Geschichte der
beiden deutschen Staaten zusammenzuführen und so das Verständnis für das
Verhalten der jeweils neuen Mitbürger zu stärken.
Wenig Verständnis bringt Schröder für die Klagen der Westdeutschen auf, die
Wiedervereinigung sei viel zu teuer. Im Prinzip seien die jetzt anfallenden Kosten
jedoch keine Wiedervereinigungskosten, sondern verspätete Kriegsschulden. Den
Krieg haben beide Teile gemeinsam verloren, deshalb treffe auch nicht eine Seite
größere Schuld an den jetzt entstandenen Kosten.
PZ-Artikel von Daniel Rücker, Westerland
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