Politik
Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer zieht Bilanz. Die PZ fragte
ihn zu Erfolgen und Rückschlägen in seiner sechsjährigen Amtszeit. Wir
wollten wissen, welche Probleme in der Gesundheitspolitik als nächstes
gelöst werden müssen - unter welcher Regierungskonstellation auch immer.
Und wir wollten wissen, welche Verantwortung aus seiner Sicht Politik und
Gesellschaft zukommt.
PZ: Herr Minister, Sie haben in Ihrer Amtszeit im deutschen Gesundheitswesen
viel bewegt. Die Gesundheitsreform in drei Stufen hat ihre Wirkung gezeigt.
Welche Bilanz können Sie persönlich nach diesen sechs Jahren ziehen? Was
verbuchen Sie als Erfolg dieser sechs Jahre?
Seehofer: Der größte Erfolg ist, daß die Bevölkerung in Deutschland nach wie vor
hervorragend medizinisch versorgt wird. Daß wir dabei noch stabile Beiträge und in
der gesetzlichen Krankenversicherung eine Rücklage von 7,7 Milliarden DM haben,
ist schön. Aber die finanzielle Seite ist eher sekundär - gemessen an dem, was
kranke Menschen von einem Gesundheitswesen erwarten, nämlich beste
Versorgung, menschlichen Zuspruch und sozialen Schutz.
Deshalb betrifft meine hohe Zufriedenheit mehr das erste Thema. Die Menschen
werden ohne Ansehen von Alter, Einkommen oder sozialer Herkunft in Deutschland
in der Medizin und von der Medizin hervorragend versorgt. Hinzu kommt, daß wir
ethisch und juristisch schwierige Fragen lösen konnten, um die ein Viertel
Jahrhundert gestritten wurde. Die Organtransplantation steht jetzt auf einer sauberen
ethischen und rechtlichen Grundlage.
PZ: Wo Licht ist, dort ist auch Schatten. Ein von Ihnen vorgeschlagener fixer
Arbeitgeberbeitrag fand in den Reihen Ihrer Partei keine Zustimmung. Andere
Vorschläge hat der Bundesrat mit der SPD-Mehrheit abgeschmettert.
Niederlagen für den Gesundheitsminister. Welche Pläne aus Ihrem Haus
hätten letztlich das System der sozialen Sicherung vor der Krise bewahren
können, welche Pläne hätten Sie gerne noch in dieser Legislaturperiode
durchgesetzt?
Seehofer: Wenn man notwendige Reformen macht, um Zukunft zu sichern, sollten
sie inhaltlich so ausgestaltet werden, daß sie auf Jahrzehnte hinaus Ruhe schaffen.
Kompromisse sichern nur Ruhe auf wenige Jahre. Und das ist eigentlich die
Schattenseite: Die Politik geht oft wegen mangelnder Tapferkeit Kompromisse ein.
Im Gesundheitswesen haben wir keine strukturellen Problemen, sondern das
Problem mit der Finanzierungsbasis. Der Finanzbedarf für die medizinische
Versorgung unserer Bevölkerung steigt stärker als die Einnahmen der
Krankenkassen - wegen der steigenden Lebenserwartung, des medizinischen
Fortschritts und der Veränderung unserer Sozialstrukturen. Daran ändert sich auch
nichts, wenn sich die hohe Arbeitslosigkeit weiter entspannt. Wir wissen aus der
Vergangenheit, daß eine Erholung des Arbeitsmarktes keinesfalls mit der Lösung der
Finanzierungsprobleme der Sozialversicherung kongruent ist.
Die vorletzte Gesundheitsreform fand 1992 statt. Damals hatten wir nach heutigem
Verständnis Vollbeschäftigung. Und trotzdem war die Gesundheitsreform
notwendig. Die Gesundheitsreform 1989 mit aus heutiger Sicht geradezu idealen
ökonomischen Bedingungen war wegen der Finanzierungsstrukturen im
Gesundheitswesen notwendig. Natürlich entspannt eine Erholung auf dem
Arbeitsmarkt, aber sie löst nicht das Problem. Deshalb müssen wir langfristig über
die Finanzbasis erneut nachdenken. Für die absehbare Zukunft jedoch reicht die
Reform aus.
PZ: Wenn die Koalition die Bundestagswahl gewinnt und Sie, Herr Minister, im
Amt bleiben, wo werden Sie in der Gesundheitspolitik die Schwerpunkte
setzen?
Seehofer: Die strukturellen Bedingungen des deutschen Gesundheitswesens sind
jetzt stimmig. Da kann vielleicht da und dort - zum Beispiel was die Transparenz
gegenüber dem Bürger angeht oder die Transparenz zwischen den Beteiligten im
Gesundheitswesen - etwas verfeinert oder ergänzt werden.
Gerade bei den Apothekern gibt es positive Anschauungsbeispiele. Ich denke an die
Daten in den Abrechnungszentren. Sie könnten für die Ärzte, was das medizinisch
geordnete und richtige Verordnungsverhalten angeht, eine Hilfe sein. Und das sehe
ich gar nicht so sehr unter ökonomischen Aspekten. Dazu brauchen wir aber keine
Gesundheitsreform.
Die entscheidende Frage jedoch ist, wie die gesetzliche Krankenversicherung
dauerhaft finanziell stabilisiert werden kann. Da liegt das Problem der Zukunft.
Bisher war das ein "stop and go" mit Reglementierung, Budgetierung und
pausenloser Reformitis. Ich hätte den Ehrgeiz, eine Lösung herbeizuführen, die eine
Dekade überdauert - auch wenn's manche für unmöglich halten.
PZ: Kann man das noch unter dem Diktat der Beitragssatzstabilität
verwirklichen?
Seehofer: Ich glaube, daß wir insgesamt im deutschen Gesundheitswesen mehr
Finanzmittel brauchen, um die Erstklassigkeit der medizinischen Versorgung zu
erhalten. Es gibt vier, fünf große Denkmodelle, die alle ihr Pro und Contra haben -
von der Steuer bis zum Arbeitgeberanteil. Die Kunst, die zu bewerkstelligen ist,
heißt: den Finanzbedarf zu decken, ohne die Lohnnebenkosten zusätzlich zu
belasten. Das ist nicht einfach. Selbst die vermeintlich einfachste Lösung: den
Leistungskatalog so lange zurückzufahren, bis die Einnahmen reichen, stößt auf
Gegenstimmen. Das wäre ja die Fortführung einer gesetzlichen Budgetierung. Und
davon halte ich am allerwenigsten.
PZ: Heißt das, daß man den Bürgern mehr individuelle Entscheidungsfreiheit
und Verantwortung - nicht im Sinne von Eigenbeteiligung - überläßt? Die
Bürger könnten sich entscheiden, für welche Leistungen sie sich zusätzlich
versichern wollen - über eine Basisversorgung hinaus.
Seehofer: Wenn Basisversorgung nicht heißt, eine quasi Miniversorgung, dann
könnte man schon über eine Pflicht zur Versicherung nachdenken, die dem einzelnen
mehr Entscheidungsraum läßt als bisher. Was die Verantwortung betrifft, so ist sie
unteilbar im Gesundheitswesen. Es gibt eine Verantwortung des Patienten und
Versicherten. Die ist im begrenzten Umfang so vorstellbar, wie beschrieben. Man
kann aber nicht dem Bürger alleine das Entscheidungsrecht überlassen, ob und in
welchem Umfang er sich versichert. Die Eigenverantwortung beim Bürger sollte
schon früher beginnen - nämlich bei der Verantwortung für die eigene Gesundheit.
Präventions-, Früherkennungs- und Vorsorgemaßnahmen müssen viel stärker in
Anspruch genommen werden als heute.
Auch Ärzte und Krankenhäuser haben eine Verantwortung. Sie müssen mit der
Freiheit, die ihnen übertragen wurde, verantwortungsvoll umgehen. Keine
Gefälligkeitsmedizin, sondern die Begrenzung auf das medizinisch Notwendige. Die
Krankenkassen müssen mit den Beitragsmitteln verantwortungsvoll umgehen und
dürfen sie nicht für überzogene Bürokratie und Verwaltung ausgeben. Und
Apotheker haben beispielsweise die Funktion, den Patienten und Versicherten
umfassend und auf fachlich hohem Niveau zu beraten. Wir haben alle die Neigung,
die Verantwortung immer nur beim anderen zu sehen. Mir kommt es darauf an, daß
sich wieder alle im Gesundheitswesen als Verantwortungsträger begreifen, daß
Verantwortung mehr ist als Selbstbeteiligung. Das alles hat etwas mit Bewußtsein
und Mentalität zu tun. Und die sind derzeit wichtiger als eine Gesundheitsreform.
PZ: Wie kann man den Bewußtseinswandel erleichtern oder herbeiführen?
Seehofer: Unsere Gesundheit sollte uns mindestens genau so wichtig und genau
soviel wert sein, wie die Gestaltung unserer Hobbys, unserer Freizeit, unseres
Urlaubs oder unseres Arbeitslebens. Leider erinnern sich aber die meisten
Beteiligten immer erst daran, wenn die Gesundheit gestört ist. Man sollte sich nicht
erst mit den Dingen auseinandersetzen, wenn das Schicksal einen streift.
PZ: Zurück zur Finanzierung. Ist es für Sie denkbar, daß auch andere
Einkommensarten zur Finanzierung der GKV herangezogen werden - etwa
Einkünfte aus Kapitalvermögen?
Seehofer: Leider haben wir in Deutschland nicht die Reife, theoretisch denkbare
Alternativen einige Monate mit Pro und Contra zu diskutieren und anschließend eine
Entscheidung zu treffen. Deshalb mache ich auch in diesem Interview keine
Vorschläge. Daraus darf aber auch nicht der Umkehrschluß gezogen werden, daß
ich etwas befürworte, weil ich es nicht abgelehnt habe.
Es gibt einen bunten Strauß von Ansätzen, die man diskutieren muß. In Deutschland
muß man aber offenbar den fertigen Vorschlag präsentieren und kann nicht
verschiedene Vorschläge nebeneinander prüfen. Das habe ich ja bei der letzten
Gesundheitsreform erlebt. Wenn sie einen Ursprungsvorschlag leicht variieren, heißt
es gleich, der ist umgefallen, der hat eine Weisung aus dem Kanzleramt bekommen
oder das hat ihm Möllemann vorgeschrieben. Die deutsche Diskussionskultur ist auf
ein Mittelmaß zurückgefallen. Das liegt aber ganz gewiß nicht an den
Berufspolitikern.
Wir sind sieben Wochen vor einer Wahl. Jetzt hat nur der Wähler das Wort. Wir
müssen verdeutlichen, warum wir wie entschieden haben und daß die Reformpolitik
Früchte trägt. Ich mache mir für die Zeit ab dem 28. September derzeit keine
Sorgen. Wenn man in der Politik auf bestimmte Verhaltensmuster oder
Karriereplanungen fixiert ist, kann man nichts mehr durchsetzen und verliert jede
Unabhängigkeit. Gerade die persönliche Unabhängigkeit ist für mich der größte
Spaß in der Politik. Sonst hätte ich in den vergangenen Jahren nicht das eine oder
andere schultern können oder etwa jetzt die Auseinandersetzung mit den
Funktionären der Zahnärzte führen können.
PZ: Themenwechsel: EuGH-Urteil zur Erstattung von Gesundheitsleistungen
im europäischen Ausland. Könnte eine Harmonisierung der länderspezifischen
Gesundheitssysteme den Standort Deutschland in Gefahr bringen?
Seehofer: Ja. Und das Gesundheitswesen. Wenn wir dem Urteil und der
Harmonisierungswelle auf europäischer Ebene im Gesundheitswesen folgen, bleibt
im deutschen Gesundheitswesen nichts mehr so wie es ist. Man kann mit Sicherheit
die Prognose geben, daß alles schlechter wird als es heute ist. Wir würden von
hohem Niveau auf eine Mittelmäßigkeit zurückfallen. Wer jetzt noch nicht begriffen
hat, daß es den europäischen Bürokraten um immer mehr Kompetenz und immer
mehr Zentralismus geht, dem ist nicht zu helfen. Wir hatten jetzt die Entscheidung
über die Werbung für Tabak, wo die Kommission etwas entschieden hat, was sie
nun überhaupt nichts angeht. Das Bekleben einer Litfaßsäule in Frankfurt ist keine
europäische Angelegenheit. Eine zweifelsfrei europäische Angelegenheit hat die
Kommission dagegen nicht erledigt: Denken sie an die Kinderpornographie im
Internet. Das wäre eine europäische Aufgabe.
Auch im Gesundheitswesen dreht sich die Spirale weiter. Es geht längst um mehr als
die Erstattung eines Brillengestells. Wir haben den höchsten Sozialstandard in der
Europäischen Union. Wenn wir den harmonisieren würden, hieße das, daß aus dem
höchsten Standard Mittelmaß wird oder andere müssen ihren Standard heben - und
das zahlen dann die Deutschen. Die Spanier haben nicht zufällig die Diskussion über
stärkere Beitragsleistungen der Deutschen eröffnet. Sie wollen einen höheren
Standard durch deutsche Beitragsmittel finanzieren. Wer das nicht begreift, wird
feststellen, daß ihn die Realität überrollt.
Deshalb ist es richtig, daß der Kanzler nach der Entscheidung für den Euro jetzt auf
eine Bestandsaufnahme drängt: was gehört nach Europa, was muß in der
Kompetenz der Mitgliedstaaten bleiben? Da darf nicht durch die Hintertür
zentralisiert werden. Das zweite ist: Das beste Bollwerk gegen Rechtsradikalität in
Deutschland ist, solche Unzulänglichkeiten gar nicht einreißen zu lassen. Wenn zum
Beispiel jemand an Sozialvergünstigungen in Deutschland teilhat, ohne jemals einen
Beitrag dafür geleistet zu haben...Davon reichen zwei, drei Fälle, um
Ausländerfeindlichkeit oder antieuropäische Stimmung in Deutschland zu schüren.
Das kann ein verantwortlicher Politiker nicht wollen.
PZ: Wie erklären Sie sich die Stellungnahmen der Zahnärzte und der
Krankenkassen zum EuGH-Urteil? Letztere müßten doch an einer
Stabilisierung ihrer Finanzierungsressourcen interessiert sein.
Seehofer: Diese Stellungnahmen spiegeln genau die Denkschulen in
gesundheitspolitischen Diskussion Deutschlands wider. Beide Seiten versuchen jetzt
über die europäische Schiene in Deutschland das zum Tragen zu bringen, was sie
seit 40 Jahren nicht erreicht haben.
Die Zahnärzte wollen ein privatrechtliches Verhältnis zwischen Patient und Arzt ohne
soziale Bindung, und die Krankenkassen ihr Einkaufsmodell, indem sie sagen,
europäische Versorgung zu Lasten der deutschen Krankenversicherung ist nur
möglich, wenn die Krankenkassen die Entscheidungskompetenz haben, wer an der
Versorgung der Bevölkerung teilnehmen kann. Bei allem Respekt vor den Kassen
und der Notwendigkeit dieser Einrichtung - das wäre ein Nachfragemonopol. Das
hat sich in der Geschichte noch nie zum Segen für die Menschheit ausgewirkt. Ich
halte es auch verfassungsrechtlich nicht für möglich: Wenn schon der Gesetzgeber
nicht die Berufsausübung durch Gesetz einschränkt, wird er wohl kaum die
Krankenkasse mit dieser Kompetenz ausstatten.
PZ: EU-Kommissar Dr. Martin Bangemann bezeichnet die Apotheker als
Dummköpfe, weil sie sich neuen Wettbewerbsstrukturen und neuen Medien
verschließen. Die jetzt verabschiedete 8. AMG-Novelle schreibt dagegen ganz
im Sinne der Arzneimittelsicherheit und des Verbraucherschutzes das
Versandhandelsverbot fest. Wie soll die Einhaltung des Gesetzes kontrolliert
und sanktioniert werden?
Seehofer: Herrn Bangemann spreche ich schlicht und einfach die notwendige
Sachkunde ab. Er ist hier unverantwortlich. Sie können im Gesundheitswesen, wo es
um den sozialen und gesundheitlichen Schutz der Bevölkerung geht, nicht das pure
Gesetz von Angebot und Nachfrage realisieren. Es gibt eine staatliche
Verantwortung - auch im Bereich der Pharmazie. Die Arzneimittelsicherheit muß
gewährleistet sein. Das können nicht der Markt und das Internet entscheiden. Wir
haben bitter erfahren, zu welchen Katastrophen es führen kann, wenn man die
Arzneimittelsicherheit nicht ernst nimmt. Deshalb bleibe ich dabei - und das hat
überhaupt nichts mit Lobbyismus und Wahlkampf zu tun: Wir sind gut beraten, wenn
wir unser System von der Arzneimittelzulassung bis zur Arzneimitteldistribution so
aufrechterhalten, wie es sich in Deutschland bewährt hat. Ich halte meinen Kopf
nicht für eine Entscheidung hin, die letzten Endes nur in neuen
Arzneimittelkatastrophen enden muß. Wenn es um Gesundheitsschutz und den
sozialen Schutz geht, verstehe ich keinen Spaß. Deshalb habe ich eben bewußt das
Wort "unverantwortlich" gewählt, weil ich glaube, daß sich Herr Bangemann hier an
der Oberfläche bewegt.
Man sollte sich vielmehr mit überfälligen und wichtigen Aufgaben beschäftigen wie
den Auswüchsen der Kinderpornographie im Internet sowie mit den Auswüchsen
von Versandhandel für Arzneimittel im Internet. Nicht ohnmächtig feststellen, daß
das schwierig ist, sondern sich mit der Wucht der Europäischen Union international
auf einen Kodex verständigen. Und möglicherweise kommt es dann auch zu
rechtlichen Konsequenzen. Das ist eine typische Aufgabe, die grenzüberschreitend
angegangen werden muß. Das kann eine nationale Regierung alleine nicht mehr. Das
ist europäische Zuständigkeit.
PZ: Also sollte die 8. AMG-Novelle Wegweiserfunktion für Europa haben?
Seehofer: Ja natürlich. Und Gott sei Dank war das schließlich auch ein
parteiübergreifender Konsens. Wir können nicht im Sommer 1998 die 8.
AMG-Novelle parteiübergreifend beschließen und im Winter 1998 unter dem Druck
der internationalen Entwicklung die Entscheidung wieder revidieren.
Ich möchte nicht, daß das deutsche Gesundheitswesen internationalen
Negativentwicklungen geopfert wird - sei es der Harmonisierung des
Gesundheitswesens, sei es den Entwicklungen der Informationstechnologie. Im
Strafrecht würde man das auch nicht akzeptieren.
PZ: Was steht im Raum, wenn die SPD im Herbst an die Regierung kommt.
Werden möglicherweise Teile der Gesundheitsreform zurückgenommen?
Seehofer: Zunächst ist bemerkenswert, daß ich bis zur Stunde weder einen
Kontrahenten, noch eine Kontrahentin für das Gesundheitsministerium kenne. Im
SPD-Parteiprogramm atmet der Geist der staatlichen Reglementierung und
Budgetierung. Und eine Budgetierung halte ich für verheerend. Sie können den
Medizin- und Pflegebedarf der Bevölkerung nicht auf Dauer nach den Einnahmen
der Krankenkassen ausrichten. Das muß zu Fehlentwicklungen führen.
Ansonsten ist bemerkenswert, daß die SPD Teile der Gesundheitsreform
zurücknehmen will, aber nicht die ganze Gesundheitsreform. Bemerkenswert auch,
daß man Dinge kritisiert, aber nicht ankündigt, sie abzuschaffen. Ich kenne zum
Beispiel keine Ankündigung, das Krankenhausnotopfer rückgängig zu machen.
Wenn man alles unter den Vorbehalt stellt, "wir müssen nach dem 27. September
nachdenken, was wir tun können und wollen", kann man natürlich
Widersprüchlichkeiten in das Wahlprogramm schreiben.
PZ: Sie haben das Wort "Vorfahrt für die Selbstverwaltung" geprägt. Diese
Selbstverwaltung war nun auch verpflichtet, die letzte Reformstufe
umzusetzen, das heißt die Budgets in Richtgrößen umzuwandeln. Das ging
allerdings recht schleppend voran. Erwarten Sie über die Richtgrößen eine
Kostensteigerung im Arzneimittelsektor?
Seehofer: Die Richtgrößen sind das geringste Übel. Ein Ideal gibt es nicht. Es ist
lediglich eine Orientierungsgröße für den einzelnen Arzt, die auch überschritten
werden kann. Überschreitung heißt nicht automatisch Regreß, sondern Beratung.
Wir brauchen im Gesundheitswesen Pluralität. Die Kollektivhaftung eines
Arzneimittelbudgets und eine Positivliste führen in die Irre.
PZ: Sind Sie mit dem großen Block im Gesundheitswesen, dem Krankenhaus
zufrieden?
Seehofer: Ja. Mit den strukturellen Maßnahmen im Krankenhauswesen bin ich
zufrieden, weil sie formell Waffengleichheit zwischen Krankenhäusern und
Krankenkassen herstellen. Wenn sich die beiden Verhandlungspartner nicht über
den Finanzierungsbedarf eines Jahres einigen, entscheidet eine Schiedsstelle. Das
gleiche gilt zwischen Ärzten und Krankenkassen. Die Grundlagen dieser
Verhandlungen sind keine ökonomischen, sondern es geht nach dem medizinischen
Versorgungsbedarf der Bevölkerung. Mit diesen beiden Grundpfeilern der
deutschen Gesundheitspolitik bin ich hochzufrieden. Wenn dann der Aufwand doch
einmal um ein Prozent mehr steigt als die Löhne, dann ist das politisch gewollt, weil
dahinter das Oberziel steht: erstklassige Versorgung unserer Bevölkerung. Ich
glaube nicht, daß es noch irgendeinen Bereich im Gesundheitswesen gibt - von den
Arzneimitteln über den niedergelassenen Arzt bis zum Krankenhaus - aus dem man
noch Milliarden herauspressen könnte, ohne die Hochwertigkeit des
Gesundheitswesens zu zertrümmern.
PZ: Welchen Stellenwert messen Sie dem Apotheker in einem künftigen
Gesundheitssystem zu? Der Berufsstand hat ja gezeigt, daß er durchaus in der Lage
ist, Verantwortung zu übernehmen. Gibt es da Ansätze für die Zukunft, den
Apotheker mehr als bisher auch im SGB V einzubinden?
Seehofer: Der Apotheker ist mit Sicherheit der Arzneimittelfachmann oder die
Arzneimittelfachfrau in unserem Land. Ich kenne niemanden, weder bei den
Krankenkassen noch bei der Ärzteschaft, der das gleiche Urteil uneingeschränkt
verdient hätte. Das ist kein Vorwurf gegenüber anderen. Apotheker üben lediglich
ihren Beruf aus und das bedeutet auch, immer auf dem neuesten Stand der
pharmakologischen Entwicklung zu sein. Deshalb ist es wünschenswert, wenn dieser
Fachverstand stärker nachgefragt und berücksichtigt würde.
Die Apotheker haben natürlich auch ökonomische Interessen. Sie haben aber mehr
als einmal bewiesen, daß sie diese Interessen auch in das Gesamtsystem, in das
Gemeinwohl des deutschen Gesundheitswesens einordnen können. Wenn sich denn
alle so verantwortlich verhalten hätten, wären wir heute ein ganzes Stück weiter.
Denken Sie nur einmal an das Umpolen von hochpreisigen Arzneimitteln und
sachlich nicht gerechtfertigten Apothekerspannen. Da sind die Apotheker große
Schritte auf die Politik zugegangen, während die Politik mit der Vergütung der
Nachtarbeit und Rezepturen nur sehr kleine Schritte gehen konnte.
Ich glaube nicht, daß es möglich wird, eine Beteiligung mit Vetorecht herbeizuführen.
Denn ein dreiseitiges Beteiligungsverhältnis, in welchem ein Beteiligter ein Vetorecht
hat, führt in aller Regel zu einer Lähmung. Primär muß der Arzt die Verantwortung
für seine Verordnung tragen. Die Krankenkasse muß die wirtschaftliche Seite
verantworten. Der Apotheker darf aus diesem System aber nicht eliminiert werden,
was die Folge des Versandhandels oder eines Einkaufsmodells wäre. Das wäre das
Ende eines guten Gesundheitswesens.
Interview von Hartmut Morck und Gisela Stieve, München
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