Politik
Seit 1982 gibt es die Marien-Apotheke in Neuravensburg. Sie ist
inzwischen ein ebenso wichtiger Bestandteil der dörflichen Infrastruktur wie
die Bäckerei und der Metzger wenige hundert Meter weiter unten in der
Hauptstraße.
Zwischen Lindau und Wangen, im Landkreis Ravensburg, liegt die 2.500 Seelen
zählende Ortschaft Neuravensburg. Die umliegende Gegend ist landwirtschaftlich
geprägt. Zur nächsten Apotheke, in Wangen, Kißlegg oder Lindau, müßten die
Neuravensburger knapp zehn Kilometer fahren. Aufgrund der geringen Kaufkraft ist
Joachim Dempe, Besitzer der Marien-Apotheke, auch auf Kunden aus den
benachbarten kleinen Dörfern angewiesen.
Als Dempe vor 15 Jahren nach Neuravensburg kam, wußte er, daß er sich keine
goldene Nase verdienen würde. Überzeugt war er aber, daß es einen dringenden
Bedarf der hiesigen Bevölkerung gab, "nicht wegen jeder Kopfschmerztablette so
weit zu fahren". Unter dem Motto "Lieber hier der einzige, der was für die
Bevölkerung tun kann, als sich in Wangen mit einer weiteren Apotheke
reinquetschen, die nur den anderen den Umsatz abnimmt" entschloß er sich gerade
hier zur Existenzgründung. Mit Erfolg: Bald überstiegen die Umsätze Dempes
anfängliche Prognose um das Zweieinhalbfache.
Das Sparprogramm
Im September 1996 stellte der BKK-Bundesverband im Namen aller
Spitzenverbände der Gesetzlichen Krankenkassen in neun Kassenärztlichen
Vereinigungen (KV) für das Jahr 1995 eine Budgetüberschreitung von circa 870
Millionen DM fest. Auf die KV Südwürttemberg entfielen davon rund 37,8
Millionen DM. Die regional zuständige KV rief ihre Mitglieder zu drastischen
Einsparungen auf. In einem Schreiben der KV Südwürttemberg heißt es dazu: "Wir
sehen zur Abwehr der behaupteten Ausgleichsansprüche vorübergehend nur die
Möglichkeit, die von der Politik und den Krankenkassen aufgedrängte
Differenzierung des Arzneimittelverordnungspotentials gegenüber den Versicherten
über die Verordnungsweise der Vertragsärzte dort durchzusetzen, wo
Budgetüberschreitungen drohen". Grundlage des Sparprogramms bildet der
Arzneiverordnungsreport des Wissenschaftlichen Instituts der Ortskrankenkassen
(WIdO), der als "umstritten" bezeichnete Arzneimittel prinzipiell als nicht
verordnungsfähig einstuft.
Der Sparkurs der KV beginnt im Oktober 1996. Im Gespräch mit der PZ berichtet
Dempe von einem Verordnungsnotstand, weil Ärzte teilweise auch auf dringend
nötige Medikationen verzichten. Was im WIdO-Report als unwirksam bezeichnet
ist, wird nur noch auf Privatrezept verordnet.
Nach Dempes Aussage sind viele Patienten verunsichert. Betroffen seien vor allem
diejenigen, die gute Erfahrungen mit Arzneimitteln gemacht haben, deren Wirkung
jetzt im WIdO-Report als umstritten eingestuft werde. Nachdem ihnen oft jahrelang
diese vom Arzt als wichtig eingestuften Medikamente auf Kassenrezept verordnet
wurden, sähen sie sich jetzt mit hohen Kosten für private Verordnungen konfrontiert.
Aus Angst vor Regreßforderungen scheuten nämlich viele Ärzte, umstrittene
Arzneimittel weiterhin zu Lasten der GKV zu verordnen, so Dempe. Dennoch
berichtet nur ein Teil der Patienten in der Marien-Apotheke von
Verordnungsverweigerungen ihres Hausarztes.
Die Umsatzeinbrüche sprechen für sich: Durchschnittlich fehlen Dempe von
November 1996 bis Mai 1997 mehr als 26 Prozent des entsprechenden
Vorjahresumsatzes in der Kasse. Seinen Gesamtumsatzverlust im GKV-Markt für
jene sieben Monate beziffert er mit 275.600 DM (brutto), was einem absoluten
Rückgang des Rohertrages von knapp 73.000 DM entspricht. Seinen Kollegen im
Regierungsbezirk Tübingen fehlen durchschnittlich 196.000 DM (Rohertrag: minus
51.800 DM). Seine Spitzenreiterrolle im Umsatz- und Rohertragsrückgang erklärt
sich Dempe vor allem mit der mangelnden Kaufkraft der Landbevölkerung. Mit dem
OTC-Markt kann er das Umsatzloch nicht auffangen.
Schadensbegrenzung
Der unerbittliche Sparkurs der KV zwingt Dempe zum Handeln. Er setzt sich mit
seinen Kollegen und Ärzten aus der Wangener Region zusammen. Die Heilberufler
entwickeln gemeinsam einen Standardtext, der den Verordnungen beigelegt wird
und die Patienten dazu auffordert, auch künftig Rezepte mit selbst zu zahlenden
Medikamenten einzulösen. Mit einer Anzeige in der örtlichen Tageszeitung weisen
Apotheker und Ärzte gemeinsam auf die Mißstände der Budgetierungspolitik hin.
Die massive Kritik am Sparkurs der KV wird auch im redaktionellen Teil der
Tagespresse dokumentiert. Dennoch sind die Krankenkassen nicht bereit, das
Budget nach oben zu korrigieren.
Die entsprechend dem WIdO-Report veröffentlichten Richtlinien zur Einsparung von
umstrittenen Arzneimitteln unterscheiden nicht zwischen Präparaten mit Zulassung
und solchen ohne. Da die Zulassung eines Medikamentes jedoch einen positiven
Wirksamkeitsnachweis voraussetzt, setzt sich Dempe für eine Differenzierung
zwischen zugelassenen und nicht zugelassenen Fertigarzneimitteln ein. Es sei dem
Bürger nicht zuzumuten, mit seinen Steuergeldern eine große Bürokratie der
Zulassung zu finanzieren, um später mit dem Widerspruch, die Wirksamkeit sei nicht
ausreichend belegt, konfrontiert zu werden. In Schreiben an Apothekerverband und
-kammer Baden-Württemberg sowie die KV Südwürttemberg argumentiert Dempe,
daß rechtlich kaum etwas dagegen einzuwenden sei, wenn sich der Verordner auf
Arzneimittel stütze, bei denen er aufgrund ihrer Zulassung grundsätzlich davon
ausgehen könne, daß sie wirksam und wirtschaftlich sind.
Der Lösungsvorschlag für die südwürttembergischen Verordnungsprobleme geht
auch der ABDA zu. Dort findet er jedoch als nicht brauchbarer Denkansatz - der
Umkehrschluß führe ja dazu, daß jede Arznei ohne Zulassungsnummer nicht mehr
verordnet werden könne - keine Unterstützung.
Die "Dempe-Liste"
Dempes Engagement gegen die Diskriminierung anscheinend umstrittener
Medikamente ist ungebrochen. Um das Verordnungsvolumen der im WIdO-Report
negativ bewerteten Arzneimittel zu bestimmen, durchforstet er mit zwei
Apothekerkollegen aus dem Wangener Raum sämtliche Schubladen seines
Warenlagers und stuft die Präparate mit Hilfe der teilweise aufgedruckten
Zulassungsnummern ein. Es entsteht eine Produkteliste, sortiert nach Indikationen
und Vorordnungshäufigkeit, Umsatz und Zulassungsstatus.
Fazit dieser Sisyphosarbeit: 1996 wurden in Südwürttemberg Arzneimittel für 611,3
Millionen DM zu Lasten der GKV verordnet. Bei Verordnungsverzicht auf alle laut
WIdO-Report umstrittenen Arzneien hätte es Einsparungen von 130,6 Millionen
DM gegeben. Hätte die fehlende Zulassung der Präparate als Kriterium für eine
Verordnungsverweigerung gegolten und wären umstrittene Medikamente mit
Zulassung weiterhin verschrieben worden, so hätte die GKV in der Region immer
noch 99,4 Millionen DM eingespart. Eine Verunsicherung der Patienten durch eine
widersprüchliche Einstufung der Wirksamkeit wäre dann aber ausgeblieben.
Die Dempe-Liste findet keine Liebhaber. Zwischen den Ärzten und Apothekern
einerseits und den Krankenkassen in der Region andererseits gibt es keinen
Konsens. Südwürttembergs Ärzte sind weiterhin gezwungen, den Sparkurs der
GKV durch Verordnungsverweigerungen auf Weisung der KV Südwürttemberg
einzuhalten.
Inzwischen versucht der aktive Offizinapotheker, die Umsatzverluste der
Neuravensburger Marien-Apotheke durch Einsparungen zu kompensieren. Bei den
Personalkosten sind seiner Meinung nach die Rationalisierungsreserven
ausgeschöpft. Aber inzwischen haben seine Angestellten Sorge um ihre
Arbeitsplätze. Auch sie wissen, daß es wirtschaftlich nicht gut um den Betrieb steht.
PZ-Artikel von Ulrich Brunner, Neuravensburg
© 1997 GOVI-Verlag
E-Mail: redaktion@govi.de