Politik
Lebenserhaltende ärztliche Behandlungen können auch dann
abgebrochen werden, wenn dies nicht dem aktuell formulierten, sondern
"dem zuvor geäußerten und mutmaßlichen Willen" des Patienten entspricht.
Das hat der 20. Zivilsenat des Oberlandesgerichtes (OLG) Frankfurt am
Main Anfang vergangener Woche in einem Einzelfall entschieden. Die
Entscheidung darüber müsse aber ein Vormundschaftsgericht treffen,
nachdem es den mutmaßlichen Patientenwillen ermittelt habe.
Obwohl die Richter damit - entgegen anderslautenden Einschätzungen - nicht
Neuland betreten haben, hat das Urteil in Bonn heftige politische Reaktionen
ausgelöst. Justizminister Edzard Schmidt-Jortzig (FDP) sprach sich gegen "jegliche
Beteiligung des Staates an Sterbehilfe" aus. In Fragen des Lebensschutzes sei er
"Fundamentalist". Auch der CDU-Bundestagsabgeordnete Rupert Scholz kritisierte
die Entscheidung. Sie sei "unakzeptabel", sagte der Jurist. Herta Däubler-Gmelin,
rechtspolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion und Schattenjustizministerin
in Gerhard Schröders Wahlkampfmannschaft, wandte ein, daß damit ein "Tor zum
Mißbrauch" geöffnet werden könnte. Ähnlich kritisch äußerte sich auch die
gesundheitspolitische Sprecherin von Bündnis 90/Die Grünen, Monika Knoche.
Zustimmung kam dagegen von Vertretern der Ärzteschaft, vom
FDP-Bundestagsabgeordneten Hildebrecht Braun und von der Gesellschaft für
humanes Sterben. Sie werteten das OLG-Urteil als Schritt zu mehr Rechtssicherheit
für alle Beteiligten und als Stärkung des Patientenwillens. Braun sprach sich
allerdings auch für eine gesetzliche Regelung aus. "Wir können uns als Volksverteter
nicht länger um dieses Thema drücken und eine gesellschaftlich so relevante Frage
immer wieder auf die Gerichte abschieben, obwohl wir wissen, daß viele Menschen
unter zum Teil erbärmlichen Bedingungen in deutschen Krankenhäusern sterben
müssen", gab der Liberale zu bedenken.
In dem Urteil geht es um eine 85jährige Frau, die nach einem schweren Hirninfarkt
seit Ende vergangenen Jahres in einem Frankfurter Krankenhaus im Koma liegt und
künstlich ernährt wird. Eine Besserung ihres Zustandes ist nach ärztlichem Ermessen
ausgeschlossen. Wegen der starken Hirnschäden werde die Patientin niemals wieder
ein bewußtes und selbstbewußtes Leben führen können, bestätigen die vorliegenden
Gutachten. Die Tochter der Patientin hatte deshalb beim Vormundschaftsgericht
beantragt, dieses möge zustimmen, daß die künstliche Ernährung abgebrochen wird.
Ihre Mutter habe mehrfach, zuletzt im Dezember 1997, nachdrücklich darum
gebeten, sie im Fall einer schweren Erkrankung und Bewußtlosigkeit nicht künstlich
am Leben zu erhalten, sondern sterben zu lassen.
Das Vormundschaftsgericht und das Landgericht Frankfurt lehnten den Antrag der
Tochter mit der Begründung ab, der beabsichtigte Behandlungsabbruch wäre die
"gezielte Herbeiführung des Todes". Dieser Interpretation ist jedoch das OLG
Frankfurt nicht gefolgt und hat betont, daß es auf den Willen des Patienten
ankommt. Wenn eine schriftliche Verfügung (Patiententestament) nicht vorliege,
müsse der mutmaßliche Wille des Patienten erforscht werden. Die Richter haben
deshalb die Entscheidungen der Vorinstanzen aufgehoben und den Fall an das
Vormundschaftsgericht zurückverwiesen.
Das OLG Frankfurt hat damit ebenso geurteilt, wie zuvor in ähnlichen Fällen andere
Oberlandesgerichte. Die jüngste Entscheidung liegt auch völlig auf der Linie einer
damals Aufsehen erregenden Strafsache, die der Bundesgerichtshof vor Jahren zu
behandeln hatte ("Kemptener Fall", BFGH 13. September 1994, Az.: 1 StR 357/94
- LG Kempten). Damals waren der behandelnde Arzt und der Sohn einer Patientin
wegen versuchten Totschlags angeklagt, weil sie die künstliche Ernährung der
irreversibel schwer erkrankten Frau, die im Koma lag, abbrechen wollten.
Der BGH kam damals bereits zu dem Schluß, daß der mutmaßliche Wille der
Patientin erforscht werden müsse, was die Vorinstanz nicht getan hatte. Der an das
Landgericht zurückverwiesene Fall endete schließlich mit einem Freispruch.
PZ-Artikel von Karl H. Brückner, Bonn
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