Politik
Ein dreijähriges Kind hat seit fünf Wochen Fieber und Erbrechen. Die
Leberwerte sind erhöht. Eine Woche bevor die Symptome einsetzten, hatte
es die zweite Hepatitis-B-Impfung erhalten. Kann es sich um eine
Impfreaktion handeln? Sollte man die dritte Impfung verabreichen? Mit
solchen oder ähnlichen Fragen wird die regionale
Arzneimittel-Informationsstelle der Apotheke am Brüderkrankenhaus St.
Josef täglich konfrontiert.
Hier läuft seit dem 1. Januar dieses Jahres ein zunächst auf zwölf Monate befristeter
Modellversuch der Apothekerkammer Westfalen-Lippe. Kammermitglieder können
Auskünfte zu Arzneimitteln einholen. Die Einrichtung in Paderborn unter der Leitung
von Ulrike Teerling ist für rund 1550 Apotheken aus den Regierungsbezirken
Arnsberg und Detmold zuständig. Eine weitere regionale
Arzneimittel-Informationsstelle hat die Apothekerkammer Westfalen-Lippe in der
Apotheke des Prosper-Hospitals in Recklinghausen eingerichtet.
Apothekerin Ulrike Teerling beginnt mit der Recherche. Sie startet den Computer
und die Medline-CD-ROM und gibt ihre Suchbegriffe ein: Hepatitis-B-Impfstoffe,
Nebenwirkungen und Toxizität, natürlich alles auf Englisch. Das Ergebnis: 121
Literaturstellen. Teerling muß also stärker eingrenzen, um die spezielle Frage zu
beantworten. Sie gibt die Suchbegriffe Lebererkrankungen und Ätiologie ein.
Kombiniert mit den vorherigen Stichwörtern ergeben sich daraus drei
Literaturstellen, unter anderem ein Brief im Lancet von 1995. Dort wird von einem
Fall berichtet, bei dem nach einer Impfung eine akute Hepatitis-B-Infektion auftrat.
Sofort läßt Teerling den Artikel kopieren - der Lancet gehört zur Standardliteratur
der Krankenhausapotheke. Beim Lesen stellt sich allerdings heraus, daß der Patient,
um den es sich handelte, nicht zum Antikörpertest erschienen war, so daß es sich
eventuell auch um einen Non-Responder handeln könnte. Auch die anderen
gefundenen Artikel weisen auf diesen Einzelfall hin. Also forscht Teerling weiter.
Zugang zu Datenbanken
Zur Ausstattung der Arzneimittel-Informationsstelle gehört nicht nur die
Medline-CD-ROM und ein Archiv wichtiger deutscher und internationaler
Fachzeitschriften wie Lancet, New England Journal of Medicine und JAMA. Die
Apotheker haben über das Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und
Information (DIMDI) in Köln auch Zugang zu Online-Datenbanken wie der
Literaturdatenbank Embase. Drugdex von Micromedex dagegen, das in der
Paderborner Arzneimittel-Informationsstelle als CD-ROM vorliegt, ist eine
Faktendatenbank. Außerdem nutzt die Arzneimittel-Informationsstelle eine eigene
Dokumentation, in der indikationsbezogen und arzneimittelspezifisch Publikationen
abgelegt sind. Zur Ausstattung gehört auch die ABDA-Datenbank. Besonders bei
Fragen zu Warnhinweisen oder Rückrufen arbeitet das Paderborner Team mit der
Arzneimittel-Informationsstelle der ABDA in Eschborn zusammen.
Um weitere Informationen in dem Fall des geimpften Kindes zu erhalten, ruft
Teerling nun beim Hersteller des Impfstoffes an. Auch dort sind die in der Anfrage
beschriebenen Symptome als Nebenwirkungen einer Hepatitis-B-Impfung nicht
bekannt - das gleiche Ergebnis liefert eine Anfrage beim Robert-Koch-Institut
(RKI). Der Hepatitis-B-Fall ist nun abgeschlossen. Die Recherche hat keinen
Zusammenhang zwischen der Impfung und erhöhten Leberwerten ergeben. So lautet
die Empfehlung: "Man sollte bei dem dreijährigen Kind zunächst überprüfen, ob es
sich bei der Erkrankung um eine Hepatitis- oder andere Virusinfektion handelt. Die
erhöhten Leberwerte und auch die anderen Symptome stehen wahrscheinlich nicht in
Zusammenhang mit der Impfung. Wenn die Leberwerte wieder normal sind, sollte
man die dritte Impfung verabreichen, um eine Langzeitimmunisierung gegen Hepatitis
B sicherzustellen. Das Vorgehen liegt aber natürlich im Ermessen des Arztes."
Meist eindeutiges Ergebnis
Insgesamt rund 170 Anfragen gingen im ersten Halbjahr dieses Jahres in Paderborn
ein. Die Anfragen erreichen die Krankenhausapotheke auf einem speziellen
Anfragebogen, den die Apothekerkammer im Vorfeld des Modellversuchs an ihre
Mitglieder verschickt hat. Beispielsweise beantworten Teerling und ihr Team Fragen
wie "Kann die Inhalation von ß-Mimetika die Entstehung von Karies begünstigen?"
oder "Wird für Kinder unter zwölf Jahren ein spezieller FSME-Impfstoff benötigt?"
In den meisten Fällen ergeben die Nachforschungen ein eindeutiges Ergebnis.
Die regionale Arzneimittel-Informationsstelle geht auf eine gemeinsame Idee des
Leiters der Paderborner Krankenhausapotheke Burkhard Backhaus und des
ABDA-Präsidenten Hans-Günter Friese zurück, nachdem im Bezirk Nordrhein eine
Arzneimittel-Informationsstelle unter der Leitung von Ärzten entstanden war. Friese
und Backhaus beschlossen, in Westfalen-Lippe solche Einrichtungen unter der
Leitung von Apothekern ins Leben zu rufen, um Offizinen in ihrer qualifizierten
Beratung zu Arzneimittel zu unterstützen. Die Mitgliederversammlung der
Apothekerkammer stimmte der Einrichtung des Serviceangebotes zu und legte für
1997 ein Budget von 50.000 DM pro Arzneimittel-Informationsstelle fest. Für die
Bearbeitung der Anfragen wird keine Gebühr erhoben.
In Paderborn nutzte die Kammer vorhandenes Know-how. Seit sechs Jahren gibt es
in der Krankenhausapotheke eine Abteilung für Arzneimittelinformation, die den
Ärzten der 14 versorgten Häuser bei Fragen zur Arzneimitteltherapie zur Seite steht.
Die Leiterin der Arzneimittel-Informationsstelle, Ulrike Teerling, hat im Mai dieses
Jahres ihre Weiterbildung zur Fachapothekerin für Arzneimittelinformation
abgeschlossen. Die Weiterbildung beinhaltet auch eine Ausbildung im Bereich
Datenbankrecherche und im Aufbau und in der Pflege von Archiven. Außerdem
sieht sie eine Erweiterung der Kenntnisse auf den praxisbezogenen Gebieten der
Pharmazie wie klinischer Pharmakologie, Pharmakodynamik und
Arzneimittelsicherheit vor.
Durchschnittlich 40 Minuten pro Anfrage
In den meisten Fällen spricht die Arzneimittel-Informationsstelle eine Empfehlung
aus, wie man in dem konkreten Fall vorgehen sollte. Die Empfehlungen werden zum
Beispiel mit Originalarbeiten oder Ausdrucken aus Faktendatenbanken belegt.
Wenn es sich um Vergleiche von Arzneimitteln handelt, gibt die Stelle allerdings
keine Empfehlungen ab, sondern läßt der anfragenden Apotheke nur das gefundene
Material zukommen, um Auseinandersetzungen mit Pharmafirmen zu vermeiden. Die
durchschnittliche Bearbeitungsdauer pro Anfrage liegt bei rund 40 Minuten.
Ob und wie die Arzneimittel-Informationsstelle nach Ablauf des Modellversuchs
Ende 1997 weitergeführt wird, ist noch unklar. "Man kann diesen Dienst jetzt nicht
mehr einstellen", meint Ulrike Teerling dazu. "Die Apotheker haben sich an den
Service gewöhnt und werden uns einfach weiterhin ihre Anfragen schicken."
PZ-Artikel von Monika Noll, Paderborn
© 1997 GOVI-Verlag
E-Mail: redaktion@govi.de