Politik
Die Selbstmedikation
muß von mehr Information begleitet werden, damit eine
optimale Versorgung zu angemessenen Preisen möglich ist.
Dabei müssen nach Ansicht von Hugues Lanrezac,
Präsident des Europäischen Fachverbandes der
Arzneimittel-Hersteller (AESGP - Association Européenne
des Specialistes Pharmaceutiques Grand Public), die
Apotheker eine Schlüsselrolle spielen. Bei weiter
steigender Selbstmedikation könnten in den nationalen
Gesundheitssystemen nennenswerte Beträge gespart werden,
hieß es einmütig bei der 33. Jahrestagung der AESGP in
Budapest. Thema der Tagung: Selbstmedikation auf dem Weg
in die Autonomie.
Von der erfolgreichen Entwicklung des
ungarischen Pharmamarktes berichtete der
Gesundheitsminister des Landes, Dr. Mihály Kökény.
Durch die Liberalisierung der Importbestimmungen 1990
konnte das pharmazeutische Angebot jährlich um rund 400
Produkte erweitert werden, so daß der Pharmamarkt heute
über mehr als 9000 Arzneimittel verfügt. Die
Privatisierung sei vorangetrieben worden, und auch
ausländische Hersteller seien wegen der
Investitionsanreize heute in Ungarn ansässig. Das
staatliche Monopol des Großhandels sei abgeschafft
worden. Kökény räumte ein, daß die Pharmaindustrie
allein nicht das Problem des schlechten
Gesundheitszustands der ungarischen Bevölkerung lösen
könne.
Gesundheitsökonomische Bedeutung der
Selbstmedikation
Wolf-Ullrich Scherhag hat die Ergebnisse einer
deutschen Studie zur Gesundheitsökonomie der
Selbstmedikation präsentiert, die er als Leiter der
Arbeitsgruppe Gesundheitsökonomie im Bundesfachverband
der Arzneimittel-Hersteller (BAH) erarbeitet hat. Da die
Gesundheitskosten über die Beiträge zur gesetzlichen
Krankenversicherung finanziert werden, führen steigende
Gesundheitskosten zu einem hohen
Personalnebenkostenniveau, was sich negativ auf die
Konkurrenzfähigkeit deutscher Produkte auswirkt. Für
die Gesundheitsökonomie stellt sich die Frage, wie mit
einem begrenzten Gesundheitsbudget ein größtmöglicher
Nutzen erzielt werden kann. Für die Selbstmedikation
heißt das: Wie sind Kosten, Nutzen und Bedenken gegen
den Selbstkauf von Medikamenten zu bewerten und wie kann
der Stellenwert der Selbstmedikation im
Gesundheitssystems weiter erhöht werden?
Nach Beobachtungen des Patientenverhaltens und
Bevölkerungsbefragungen weiß man, daß sich 90 Prozent
aller Patienten mit leichten Befindlichkeitsstörungen
zur Selbstbehandlung entschließen, während etwa zehn
Prozent zum Arzt gehen. Von den 90 Prozent, die sich
selbst behandeln, betreiben anschließend etwa 25 Prozent
Selbstmedikation. Von den zehn Prozent der Menschen, die
bei leichten Befindlichkeitsstörungen den Arzt
aufsuchen, erhalten 90 Prozent ein Arzneimittel auf
Rezept.
Reformgesetze als Steuerungsinstrumente
Die Reformgesetze haben der Untersuchung zufolge
eine Substitutionsbeziehung zwischen ärztlichen
Verordnungen und der Selbstmedikation erzeugt. In den
Jahren 1989 und 1992 ergaben sich Scherhags Worten
zufolge Verordnungsrückgänge rezeptfreier Arzneimittel,
die durch das Gesundheitsreformgesetz und das
Gesundheitsstrukturgesetz bedingt waren. Diese wurden
durch Mehrkäufe von Selbstmedikationspräparaten in fast
identischer Packungszahl ausgeglichen. 1992 fand eine
gegenläufige Entwicklung statt, die auf einen
Vorzieheffekt ärztlicher Verschreibungen in Anbetracht
des GSG zurückzuführen ist. Die Verordnungen nahmen um
11 Prozent zu und lösten ein reziprokes Verhalten der
Selbstmedikationsabsätze aus.
Vor diesem Hintergrund könnte schon durch eine
"verhältnismäßig leichte Änderung der
Rahmenbedingungen ein Steuerungsvolumen von zehn Prozent
aller rezeptfreien Arzneimittelpackungen realisiert
werden, welches sowohl in Richtung Selbstmedikation als
auch in den Verordnungsbereich steuerbar ist", so
Scherhag.
Er rechnete an einem Beispiel vor, daß verordnete
Arzneimittel im Wert von 110 DM pro Kopf und Jahr durch
Selbstmedikation substituiert werden. Dies führe zu
GKV-Einsparungen von rund 22 Milliarden DM, zu einer
Beitragssatzentlastung um etwa 1,5 Prozentpunkte und
damit zu einer Verringerung des Arbeitnehmerbeitrages um
rund 450 DM. Nach Abzug der Belastung durch die Ausgaben
für die Selbstmedikation ergibt sich ein
Nettoeinspareffekt von etwa 340 DM pro Jahr für den
Versicherten.
Nutzen-Risiko-Bewertung der Selbstmedikation
Einer Studie des Robert-Koch-Instituts aus dem
Jahr 1995 zufolge, die auf 5000 Fällen basiert, fielen
78 Prozent der untersuchten Arzneimittelanwendungen auf
eine ärztlich verordnete Medikation und 22 Prozent auf
eine Anwendung ohne ärztliche Konsultation. Bei der
Arztmedikation traten in sechs Prozent aller Fälle
unerwünschte Arzneimittelwirkungen auf, die zu 1,25
Prozent den Kategorien "eher nicht
verträglich" und "gar nicht verträglich"
zuzuordnen waren. Bei der Selbstmedikation wurden nur in
zwei Prozent aller Fälle Nebenwirkungen verzeichnet. In
den eben genannten Kategorien lag die Häufigkeit, wie
Scherhag ausführte, sogar nur bei 0,59 Prozent. Bezieht
man die Zahlen auf die Gesamtzahl aller Anwendungsfälle,
dann tritt nur in 0,08 Prozent aller
Selbstmedikationsanwendungen eine "gar nicht
verträgliche" Wirkung auf.
BAH-Hauptgeschäftsführer Dr. Mark Seidscheck sah die
Politik seines Verbandes durch die Diskussionen auf der
AESGP-Jahrestagung bestätigt. In Deutschland sei die
Selbstmedikation längst etabliert und gesellschaftlich
anerkannt, was die Ergebnisse der Untersuchung zu den
gesundheitsökonomischen Auswirkungen der
Selbstmedikation eindrucksvoll gezeigt hätten. Andere
europäische Länder, auch das sei in Budapest deutlich
geworden, hätten noch enormen Nachholbedarf auf diesem
Gebiet, könnten aber von den Erfahrungen anderer
profitieren. Schließlich hätten auch zahlreiche
Großunternehmen die Chancen erkannt, die in der
Selbstmedikation liegen, was ihre Teilnahme an dem
Kongreß zeigt. Nachdem die große Linie stimmt, will der
BAH an die Feinarbeit gehen, daß heißt nach Seidscheck,
sich stärker um das Umfeld und den Verbraucher kümmern.
Es sei schließlich kein Naturgesetz, daß einige
Arzneimittelbehältnisse schwer zu handhaben seien und
damit für ältere Patienten anwenderfeindlich sind.
PZ-Artikel von Gisela Stieve, Budapest
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