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Selbstmedikation auf dem Weg in die Autonomie

23.06.1997  00:00 Uhr

- Politik

  Govi-Verlag

Selbstmedikation auf dem Weg in die Autonomie

  Die Selbstmedikation muß von mehr Information begleitet werden, damit eine optimale Versorgung zu angemessenen Preisen möglich ist. Dabei müssen nach Ansicht von Hugues Lanrezac, Präsident des Europäischen Fachverbandes der Arzneimittel-Hersteller (AESGP - Association Européenne des Specialistes Pharmaceutiques Grand Public), die Apotheker eine Schlüsselrolle spielen. Bei weiter steigender Selbstmedikation könnten in den nationalen Gesundheitssystemen nennenswerte Beträge gespart werden, hieß es einmütig bei der 33. Jahrestagung der AESGP in Budapest. Thema der Tagung: Selbstmedikation auf dem Weg in die Autonomie.

Von der erfolgreichen Entwicklung des ungarischen Pharmamarktes berichtete der Gesundheitsminister des Landes, Dr. Mihály Kökény. Durch die Liberalisierung der Importbestimmungen 1990 konnte das pharmazeutische Angebot jährlich um rund 400 Produkte erweitert werden, so daß der Pharmamarkt heute über mehr als 9000 Arzneimittel verfügt. Die Privatisierung sei vorangetrieben worden, und auch ausländische Hersteller seien wegen der Investitionsanreize heute in Ungarn ansässig. Das staatliche Monopol des Großhandels sei abgeschafft worden. Kökény räumte ein, daß die Pharmaindustrie allein nicht das Problem des schlechten Gesundheitszustands der ungarischen Bevölkerung lösen könne.

Gesundheitsökonomische Bedeutung der Selbstmedikation

Wolf-Ullrich Scherhag hat die Ergebnisse einer deutschen Studie zur Gesundheitsökonomie der Selbstmedikation präsentiert, die er als Leiter der Arbeitsgruppe Gesundheitsökonomie im Bundesfachverband der Arzneimittel-Hersteller (BAH) erarbeitet hat. Da die Gesundheitskosten über die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung finanziert werden, führen steigende Gesundheitskosten zu einem hohen Personalnebenkostenniveau, was sich negativ auf die Konkurrenzfähigkeit deutscher Produkte auswirkt. Für die Gesundheitsökonomie stellt sich die Frage, wie mit einem begrenzten Gesundheitsbudget ein größtmöglicher Nutzen erzielt werden kann. Für die Selbstmedikation heißt das: Wie sind Kosten, Nutzen und Bedenken gegen den Selbstkauf von Medikamenten zu bewerten und wie kann der Stellenwert der Selbstmedikation im Gesundheitssystems weiter erhöht werden?

Nach Beobachtungen des Patientenverhaltens und Bevölkerungsbefragungen weiß man, daß sich 90 Prozent aller Patienten mit leichten Befindlichkeitsstörungen zur Selbstbehandlung entschließen, während etwa zehn Prozent zum Arzt gehen. Von den 90 Prozent, die sich selbst behandeln, betreiben anschließend etwa 25 Prozent Selbstmedikation. Von den zehn Prozent der Menschen, die bei leichten Befindlichkeitsstörungen den Arzt aufsuchen, erhalten 90 Prozent ein Arzneimittel auf Rezept.

Reformgesetze als Steuerungsinstrumente

Die Reformgesetze haben der Untersuchung zufolge eine Substitutionsbeziehung zwischen ärztlichen Verordnungen und der Selbstmedikation erzeugt. In den Jahren 1989 und 1992 ergaben sich Scherhags Worten zufolge Verordnungsrückgänge rezeptfreier Arzneimittel, die durch das Gesundheitsreformgesetz und das Gesundheitsstrukturgesetz bedingt waren. Diese wurden durch Mehrkäufe von Selbstmedikationspräparaten in fast identischer Packungszahl ausgeglichen. 1992 fand eine gegenläufige Entwicklung statt, die auf einen Vorzieheffekt ärztlicher Verschreibungen in Anbetracht des GSG zurückzuführen ist. Die Verordnungen nahmen um 11 Prozent zu und lösten ein reziprokes Verhalten der Selbstmedikationsabsätze aus.

Vor diesem Hintergrund könnte schon durch eine "verhältnismäßig leichte Änderung der Rahmenbedingungen ein Steuerungsvolumen von zehn Prozent aller rezeptfreien Arzneimittelpackungen realisiert werden, welches sowohl in Richtung Selbstmedikation als auch in den Verordnungsbereich steuerbar ist", so Scherhag.

Er rechnete an einem Beispiel vor, daß verordnete Arzneimittel im Wert von 110 DM pro Kopf und Jahr durch Selbstmedikation substituiert werden. Dies führe zu GKV-Einsparungen von rund 22 Milliarden DM, zu einer Beitragssatzentlastung um etwa 1,5 Prozentpunkte und damit zu einer Verringerung des Arbeitnehmerbeitrages um rund 450 DM. Nach Abzug der Belastung durch die Ausgaben für die Selbstmedikation ergibt sich ein Nettoeinspareffekt von etwa 340 DM pro Jahr für den Versicherten.

Nutzen-Risiko-Bewertung der Selbstmedikation

Einer Studie des Robert-Koch-Instituts aus dem Jahr 1995 zufolge, die auf 5000 Fällen basiert, fielen 78 Prozent der untersuchten Arzneimittelanwendungen auf eine ärztlich verordnete Medikation und 22 Prozent auf eine Anwendung ohne ärztliche Konsultation. Bei der Arztmedikation traten in sechs Prozent aller Fälle unerwünschte Arzneimittelwirkungen auf, die zu 1,25 Prozent den Kategorien "eher nicht verträglich" und "gar nicht verträglich" zuzuordnen waren. Bei der Selbstmedikation wurden nur in zwei Prozent aller Fälle Nebenwirkungen verzeichnet. In den eben genannten Kategorien lag die Häufigkeit, wie Scherhag ausführte, sogar nur bei 0,59 Prozent. Bezieht man die Zahlen auf die Gesamtzahl aller Anwendungsfälle, dann tritt nur in 0,08 Prozent aller Selbstmedikationsanwendungen eine "gar nicht verträgliche" Wirkung auf.

BAH-Hauptgeschäftsführer Dr. Mark Seidscheck sah die Politik seines Verbandes durch die Diskussionen auf der AESGP-Jahrestagung bestätigt. In Deutschland sei die Selbstmedikation längst etabliert und gesellschaftlich anerkannt, was die Ergebnisse der Untersuchung zu den gesundheitsökonomischen Auswirkungen der Selbstmedikation eindrucksvoll gezeigt hätten. Andere europäische Länder, auch das sei in Budapest deutlich geworden, hätten noch enormen Nachholbedarf auf diesem Gebiet, könnten aber von den Erfahrungen anderer profitieren. Schließlich hätten auch zahlreiche Großunternehmen die Chancen erkannt, die in der Selbstmedikation liegen, was ihre Teilnahme an dem Kongreß zeigt. Nachdem die große Linie stimmt, will der BAH an die Feinarbeit gehen, daß heißt nach Seidscheck, sich stärker um das Umfeld und den Verbraucher kümmern. Es sei schließlich kein Naturgesetz, daß einige Arzneimittelbehältnisse schwer zu handhaben seien und damit für ältere Patienten anwenderfeindlich sind.

PZ-Artikel von Gisela Stieve, Budapest
   

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