Politik
Selbstmedikation ist ein nutzbringendes Instrument für den einzelnen und
die Gesellschaft. Sie ist immer eine individuelle Entscheidung, wirkt sich
aber auf viele unterschiedliche Ebenen aus. Mit diesen Gedanken eröffnete
Hugues Lanrezac, Präsident der AESGP (Association Européenne des
Specialistes Pharmaceutique Grand Public), die 34. Jahrestagung des
Verbandes in Athen. Der Europäische Fachverband der
Arzneimittel-Hersteller widmete sich in diesem Jahr der Frage, welchen
Mehrwert die Selbstmedikation für das Gesundheitssystem bereits hat und
bis zur Jahrtausendwende noch entwickeln kann. Die Glaubhaftigkeit des
Apothekers als Berater und Gesundheitsmanager ist dabei unbestritten.
Dimitrios Marinopoulos, Vorsitzender des griechischen Fachverbandes, wies auf die
großen Veränderungen hin, die auf Europa zukommen: Der Arzneimittelmarkt werde
sich vor allem unter der gemeinschaftsweiten Währung stark verändern. Insofern
werden nach seinen Worten die Vorträge und Diskussionen der 550 Teilnehmer
dazu beitragen, den Kurs für das nächste Jahrtausend abzustecken. Mit der
Ankoppelung der mittel- und osteuropäischen Staaten an die Marktentwicklung und
die Harmonisierung der Rahmenbedingungen für pflanzliche Arzneimittel
beschäftigten sich zwei Workshops während der dreitägigen Versammlung.
Dr. Hubertus Cranz, Direktor der AESGP, stellte im Gespräch mit der PZ heraus,
wie wichtig dem europäischen Verband der OTC-Hersteller die Zusammenarbeit
mit den Apothekern ist. Die Mündigkeit der Verbraucher und Patienten sei allerdings
je nach Mitgliedsland verschieden und dürfe nicht unterschätzt werden. In den
hochentwickelten Ländern sollten die Pharmazeuten daher ihre "Beschützerrolle"
nicht übertreiben. Die Entwicklung der Selbstmedikation in Europa - Cranz
überblickt in seiner Funktion die vergangenen zehn Jahre - wäre ohne die
kooperative Verantwortung der Apotheker nicht so beispielhaft verlaufen.
Bangemann: EU muß sich der Marktwirtschaft öffnen
"Die Europäische Union hat einen Vorteil", sagte EU-Kommissar Dr. Martin
Bangemann, der traditionsgemäß zur Eröffnung der Jahrestagung nach Athen kam.
"Wir können voneinander lernen." Er befürchtet nicht, daß Europa gegenüber
anderen Wettbewerbern zurückfällt. Die Wettbewerbsfähigkeit hänge schließlich
nicht nur von der Industrie, sondern auch von den politischen Systemen ab. Der
Europäische Rat müsse darauf achten, daß Europa weiter auf dem eingeschlagenen
Weg in die Marktwirtschaft bleibe. Bangemann zeigte sich zufrieden mit den
Industriestrukturen in Europa, weil es hier keine nennenswerten Konzentrationen
gebe.
Dennoch werden die Anforderungen an die Handelsstrukturen wachsen. Das hätten
jedoch viele Marktbeteiligte noch nicht begriffen. "Die Apotheker geben sich der
Illusion hin, daß die Welt noch so ist wie vor 250 Jahren", so Bangemann deutlich
pointierter als noch im vergangenen Jahr. Mit dem Internet komme eine Revolution
auf den Berufsstand zu, die nicht mehr zu bremsen sei. Der EU-Kommissar riet,
diesen Prozeß mitzugestalten. Denn wer Bestehendes nur erhalten und Neues
verhindern wolle, stärke lediglich andere Kräfte und überlasse ihnen das Feld.
Einen großen Erfolg in Sachen Zulassung und Klassifizierung sieht Bangemann in der
europäischen Arzneimittelagentur EMEA in London. "Das ist einzigartig in der Welt,
obwohl es noch Binnenmarkt-Hürden gibt." Mit einem europäischen Sozialsystem
würde sich die Union allerdings überheben, ist er überzeugt. Es gebe Probleme, die
besser auf nationaler Ebene gelöst werden. Es werde aber auch EU-weite
Gemeinsamkeiten geben. Damit kam Bangemann auf das Urteil des Europäischen
Gerichtshofes vom 28. April 1998 zu sprechen.
Für den EU-Kommissar ist unstrittig, daß das Urteil des EuGH für alle
Gesundheitsprodukte sowie für ärztliche Leistungen gilt und nicht nur für Brillen und
kieferorthopädische Behandlungen. Wenn man den Wettbewerb nicht nutzt, gehe ein
wesentliches Einsparpotential verloren. Ihm sei nicht bekannt, daß jemand schlechte
Erfahrungen mit der Marktwirtschaft gemacht habe. Im Gegenteil: Ein
funktionierender Markt mit Informationen, Transparenz und Preiswettbewerb führe
zu Preiskonvergenz. Preiskontrollen würden überflüssig und geben zudem Raum für
Innovationen.
"Verbot von Teleshopping ist inzwischen überholt"
Electronic commerce kommt und ist nicht mehr aufzuhalten. Im Jahr 2010 werden
nach Bangemanns Einschätzung 20 Prozent des Umsatzes über den elektronischen
Einkaufsweg abgewickelt. Die Kommission habe sich den Forderungen der
Interessenverbände zu schnell gebeugt und Teleshopping zum Beispiel für
Arzneimittel verneint. "Das halte ich inzwischen für überholt", sagte Bangemann, da
der Binnenmarkt nur ein Teil des globalen Marktes sei. "Wenn wir uns selbst die
Hände binden, stärken wir andere Märkte." Das sei die falsche Art, seine Interessen
zu vertreten. Für Arzneimittel konzediert Bangemann Beschränkungen für den Bezug
via Internet jedenfalls dort, wo von Arzneimitteln schädigende Wirkungen ausgehen
könnten.
Ein Szenario, das für Bangemann vorstellbar ist: Eine Apotheke vergrößert ihr
Geschäft, indem sie als Service anbietet, Arzneimittel über Internet zu bestellen. Eine
Smart-Card gibt dem Apotheker den genauen Stand der Medikation an. "Wenn ich
Apotheker wäre, würde ich überlegen, welche Chancen mir das neue Medium
eröffnet." Die Deutschen hätten zu seinem Bedauern aber verlernt, Chancen zu
erkennen. Sie sehen immer nur die Risiken, die mit neuen Entwicklungen verbunden
sind.
Ein Wunschkind lehrt die Eltern das Fürchten
"Europa ist ein Wunschkind der europäischen Mitgliedsländer." Mit diesem
Vergleich beschrieb Bangemann die Situation der Mitgliedsländer in der
Gemeinschaft. Jetzt, da das Kind erwachsen wird, scheinen die Eltern voller Angst
vor der Zukunft zu sein. Anstatt das Kind in das Leben zu entlassen, fühlten sie sich
von seiner Selbständigkeit bedroht. Ja, sie glaubten sogar, das gemeinsame Haus
verlassen zu müssen. So würde auch im Leben eine Familie nicht funktionieren.
PZ-Artikel von Gisela Stieve, Athen
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