Politik
Dr. Winfried Schorre, Vorsitzender der Kassenärztlichen
Bundesvereinigung (KBV), ging mit den Krankenkassen hart ins Gericht.
Auf der Vertreterversammlung am 18. Mai in Köln warf er ihnen vor, sich
als Partner in der gemeinsamen Selbstverwaltung "eine Kampagne gegen
das Image der Ärzte" zu leisten, gleichzeitig aber ihren gesetzlichen
Pflichten in der gemeinsamen Selbstverwaltung nicht nachzukommen. An die
Kassenärzteschaft appellierte Schorre, die innerärztlichen Probleme zu
lösen und sich weder von äußeren Machtgelüsten noch von internen
Interessen auseinanderdividieren zu lassen.
Die Vertragsärzte fühlen sich nach den Worten ihres Vorsitzenden von vielen Seiten
unter Druck gesetzt. Die Regierung werfe ihnen vor, die Instrumente des 2. NOG
nicht zu nutzen: Wiedereinführung der sektoralen Ausgabenbudgets für die
ambulante vertragsärztliche Versorgung, teilweise Öffnung der Krankenhäuser für
die ambulante fachärztliche Versorgung, Abschlüsse von Einzelverträgen unterhalb
der Ebene des Kollektivvertrages oder die Neustrukturierung der kassenärztlichen
Selbstverwaltung.
Als "empörend" bezeichnete Schorre das Verhalten der Spitzenverbände der
Krankenkassen. Sie bezichtigten ganze Arztgruppen des Millionenbetruges. Sie
würden aus Gewinnsucht gefährliche Methoden am Patienten anwenden. Deshalb
hätten die Krankenversicherer eine Kassenpolizei angekündigt, "die endlich Ordnung
schaffen soll bei den Kassenärzten". Schorre vermutet, daß die Kassen im
Wahlkampf mehr an der Demontierung des ärztlichen Images in der Öffentlichkeit
interessiert sei als an einer gestaltenden Kooperation mit den KVen.
Man müsse sich fragen, warum die Krankenkassen die Selbstverwaltung ad
absurdum führen. "Sie spekulieren ganz eindeutig auf einen Regierungswechsel im
September in der Hoffnung auf die Rücknahme der Reformansätze im 2. NOG
durch die SPD und damit auf eine Stärkung ihrer Machtposition gegenüber den
Vertragsärzten." Erst dann wollten die offensichtlich aus der Rolle des "payers" in die
des "players" wechseln. "Dieses Ziel verfolgen sie jedenfalls und stellen sich damit für
die Vergangenheit und die Gegenwart ein Armutszeugnis aus", so der
KBV-Vorsitzende. Er forderte die Kassen auf, nicht auf den Ausgang der nächsten
Bundestagswahl zu schielen, sondern jetzt mit den Kassenärzten gemeinsam das
Gestaltungspotential des 2. NOG zu nutzen, um die erwiesenermaßen
leistungsfähigen Strukturen der ambulanten Versorgung zu erhalten und auszubauen.
Keine Gefahr durch EuGH-Urteil
Das Urteil des Europäischen Gerichtshofes zur Freizügigkeit der Patienten in Europa
wird nach Schorres Auffassung unmittelbar keine Bedeutung für die vertragsärztliche
Tätigkeit haben. Einen Patientenexodus in andere Länder werde es wegen der hohen
Qualität der Versorgung nicht geben - wohl aber Einkauf von Medizinalprodukten
als Ausdruck des europäischen Wettbewerbs.
Politisches Eckpunktepapier
Ein Schwerpunkt der Beratungen war die Fortschreibung des Eckpunktepapiers,
das die KBV zuletzt 1994 aufgelegt hatte. Die Aktualisierung berücksichtige die
zwischenzeitlichen Entwicklungen sowie die durch die steigende Arbeitslosigkeit
wachsenden Finanzierungsprobleme der GKV.
Das Papier enthält neben zahlreichen unbestritten gültigen Aussagen - "Der Patient
steht im Mittelpunkt des Gesundheitswesens mit seinem Anspruch auf eine
notwendige, ausreichende und wirtschaftliche Versorgung, freie Arztwahl, ..." - eine
Klarstellung zum Leistungsumfang der GKV. Dies erfordere vor allem der
wachsende Bedarf in der Arzneimittel- und Heilmittelversorgung. Daneben seien die
Grundlagen der Wirtschaftlichkeitsprüfung mit dem Ziel neu zu ordnen, das
Morbiditätsrisiko wieder ausschließlich in die Verantwortung der hierfür zuständigen
Krankenversicherung anzusiedeln.
Der KBV-Vorsitzende zitierte im Laufe seines Berichtes zur Lage schließlich 24
Leitsätze, die eine Art Kondensat des Eckpunktepapiers darstellen sollten. Diese
Leitsätze lagen dem Plenum als Leitantrag des KBV-Vorstandes zur Abstimmung
vor. "Bei Annahme des Beschlußantrages kann dann wohl davon ausgegangen
werden, daß Sie dem wesentlichen Inhalt der Eckpunkte zustimmen", sagte Schorre.
Für Verwirrung sorgte bei Verbändevertretern und Beobachtern die Tatsache, daß
das Kapitel IX des Eckpunktepapiers "Arznei- und Heilmittelversorgung" in den
Leitsätzen keine Erwähnung mehr fand. Hierin wird ein Dispensierrecht für Ärzte
durch die Hintertür gefordert. Wie aus KBV-Kreisen am Rande der
Vertreterversammlung zu hören war, solle man sich an dem ersten Satz des
Leitantrages orientieren, der lautet: "Die Vertreterversammlung wird um Zustimmung
zu den von der KBV vorgeschlagenen Leitsätzen des Eckpunktepapiers gebeten".
Damit seien also die Leitsätze, nicht aber das Eckpunktepapier verabschiedet
worden. Sicherlich bestehe in diesem Bereich nachträglich Interpretationsbedarf, da
auch einzelne Kapitelüberschriften der Eckpunkte und der Leitsätze voneinander
abweichen.
Dr. Rainer Hess, Hauptgeschäftsführer der KBV, erklärte auf einer Pressekonferenz
in betonter Kürze, daß das Eckpunktepapier ein Hintergrundpapier sei. Es gehe
lediglich um Arzneimittel, die zum Beispiel im Rahmen der Diagnosestellung in der
Praxis am Patienten angewendet würden. Kleine Mengen - "zwei bis drei Tabletten"
- könnten allerdings auch mitgegeben werden. Das sollte von den Apothekern nicht
bestritten werden.
Flexible Vertragsstrukturen
Schorre stellte zwei Probleme heraus, die die Krankenkassen bei der Schaffung
vernetzter Strukturen zu lösen hätten: Sie müßten endlich die notwendigen Daten
liefern, damit Einsparungen in anderen Leistungsbereichen feststellbar sind und der
Grundsatz "Das Geld folgt der Leistung" sinnvoll realisiert werden kann. Außerdem
müßten die Kassen die Idee aufgeben, daß jede Kasse ihre eigenes Netz mit
eigenem Profil verwirklichen können soll. Dies würde zu einer Zersplitterung des
Gesundheitswesens führen, "die wir uns im Interesse unserer Patienten so nicht
leisten können". Einkaufsmodelle der Kostenträger lehnt die KBV einhellig ab.
Spaltungstendenzen
Vor innerärztlichen Spaltungstendenzen warnte Schorre seine Kollegen. Der
Konkurrenzkampf unter den Niedergelassenen habe sich in den meisten KVen in die
Facharztgruppe verlagert. Bei der Vorbereitung des zukünftigen EBM (Einheitlicher
Bewertungsmaßstab), der neben einem neuen Vergütungssystem für Laborleistungen
auf der Tagesordnung stand, gebe es häufig Kollisionen zwischen KBV und
Verbänden. Der KBV-Chef appellierte an den BDA (Hausärzteverband), Pläne
eines Primärarztsystems und einer eigenen Hausarzt-KV nicht weiter zu verfolgen.
Wer in diesen krisenhaften Zeiten die KV als Träger des Kollektivvertragssystems
spalten oder auflösen will, beraube sich selber der Schutzfunktion gegenüber den
Kassen, stärke deren Machthunger und beseitige den einzigen Garanten einer
qualitätsgesicherten flächendeckenden Versorgung. eine Abschaffung der KVen
bedeute den Zusammenbruch eines potenten Solidarsystems mit allen Konsequenzen
für die Selbstverwaltung, für Patienten uns Ärzte.
Das Gegeneinander in der innerärztlichen Auseinandersetzung hat laut Schorre
Formen angenommen, die nicht mehr tolerabel sind. Sie reichen von gezielter
Fehlinformation über Mißbrauch insbesondere der Printmedien, um eigene
Interessen durchzusetzen, bis zur Denunziation und Diffamierung. Selbst vor
anonymen Anzeigen gegen Kollegen werde nicht mehr halt gemacht. "Kehren wir
zurück zu einem akzeptablen Stil der Auseinandersetzung".
PZ-Artikel von Gisela Stieve, Köln
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