Politik
Eine Woche nach dem SPD-Wahlparteitag in Leipzig stellt sich erneut die
Frage nach dem künftigen gesundheitspolitischen Kurs der
Sozialdemokraten. Während das mit breiter Mehrheit von den Delegierten
abgesegnete Programm ihres Kanzlerkandidaten Gerhard Schröder eher
moderate Töne anschlägt, spricht ein Thesenpapier zu "Perspektiven
sozialdemokratischer Gesundheitspolitik" eine andere Sprache. Autoren
sind die für Soziales und Gesundheit zuständigen sozialdemokratischen
Landesminister und -senatoren sowie der Bundestagsabgeordnete Klaus
Kirschner, gesundheitspolitischer Sprecher der Bonner Parlamentsfraktion.
Schröder hatte unmittelbar nach seine Kür zum Spitzenkandidaten Anfan März im
Einvernehmen mit Parteichef Oskar Lafontaine durchgesetzt, daß alle
gesundheitspolitischen Kurskorrekturen nach einem möglichen Machtwechsel unter
ausdrücklichen Finanzierungsvorbehalt gestellt wurden. Lediglich bei der
Lohnfortzahlung im Krankheitsfall sowie dem Zahnersatz würden alle
Reformmaßnahmen der bisherigen konservativ-liberalen Koalition sofort
zurückgenommen. Darüber hinaus verspricht die SPD in ihrem Wahlprogramm
lediglich, chronisch Kranke und ältere Versicherte bei der Selbstbeteiligung spürbar
zu entlasten und die medizinische Versorgung wirtschaftlicher zu gestalten.
Diese unverbindlichen Passagen wurden im Vorfeld des Leipziger Parteitages intern
massiv angegriffen. Als prominentester Kritiker trat Sozialexperte Rudolf Dreßler,
Mitglied des SPD-Präsidiums und stellvertretender Vorsitzender der
sozialdemokratischen Bundestagsfraktion, auf. Er und seine Mitstreiter setzten sich
vergeblich für eine Aussage ein, im Falle der Regierungsübernahme die
Reformgesetze der Jahre 1996 und 1997 weitgehend zu stoppen. Die Befürworter
einer umfassenden gesundheitspolitischen Kurskorrektur konnten sich zunächst nicht
durchsetzen.
Mit dem neuen Thesenpapier der Landespolitiker und des Fraktionssprechers stellt
sich aber nun doch die Frage, was nach dem 27. September bei einem
Regierungswechsel geschieht. Bleibt es bei dem von Schröder angekündigten
"moderaten gesundheitspolitischen Kurswechsel" oder stehen fundamentale
Veränderungen an? Eine endgültige Aussage erscheint derzeit nicht möglich. Insider
schließen allerdings nicht aus, daß nach einem Wahlsieg den Leistungsanbietern im
Gesundheitswesen sowie der privaten Krankenversicherung alte
sozialdemokratische Folterwerkzeuge gezeigt werden. Nicht zu früh freuen sollte
sich allerdings auch die Versicherten. Vollmundig propagierte Entlastungen bei der
Selbstbeteiligung erweisen sich bei näherer Betrachtung als vergleichsweise mager.
Die Gesundheitsminister der Länder und Kirschner favorisieren als erste Stufe
sozialdemokratischer Gesundheitspolitik ein Sofortprogramm: Ein zum 1. Januar
1999 in Kraft tretendes "Gesetz zur Sicherung der sozialen Krankenversicherung"
sollte die Arzneimittelzuzahlungen der Versicherten senken, das
Krankenhausnotopfer von 20 DM per anno streichen und den Automatismus von
Krankenkassen-Beitragssatzerhöhung und höherer Versichertenselbstbeteiligung
wieder abschaffen. Zudem seien alle systemverändernden Elemente innerhalb der
Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), wie Wahltarife und Beitragsrückgewähr,
wieder zu eliminieren.
Die vorgesehene Korrektur der Zuzahlung fällt dann ernüchternd aus: Sie soll bei
N3-Packungen von derzeit 13 auf 10 DM reduziert werden. Bei der weitaus
häufiger verordneten Kleinpackung (N1) würde sie danach nur um eine Mark auf 8
DM sinken. An jeder mittleren Medikamentenpackung hätte sich der Versicherte mit
9 DM statt bisher 11 DM zu beteiligen.
Gleichzeitig soll ein Globalbudget für die gesetzliche Krankenversicherung die
Ausgaben wirksam bremsen. Als weitere Sofortmaßnahmen sind die auch vom
Kanzlerkandidaten angekündigte Wiedereinführung des bis Mitte 1997 geltenden
Rechtszustandes bei der Versorgung mit Zahnersatz sowie Maßnahmen gegen den
Mißbrauch der Krankenversichertenkarte vorgesehen. Insgesamt würden die
Versicherten zunächst um 2,5 Milliarden DM entlastet. Das könne durch
Kostenmanagement der Krankenkassen kostenneutral geschehen.
Zu den mittelfristigen Gesetzesvorhaben bis Ende 2000 zählen die Autoren des
Papiers Korrekturen bei den gegewärtigen ambulanten und stationären
Versorgungsstrukturen. Dazu gehörten unter anderem eine Arzneimittel-Positivliste,
direkte Preisverhandlungen zwischen pharmazeutischer Industrie und
Krankenkassen sowie eine "qualitätsorientierte Zuzahlungsregelung" in diesem
Bereich. Gleichzeitig sei die hausärztliche Versorgung zu stärken.
Versichertenselbstbeteiligung und Niveau des Krankengeldes seien in Abhängigkeit
von der erreichten Konsolidierung der Krankenkassenfinanzen anzupassen. Für sie
werden Nettomehreinnahmen von jährlich 9,9 Milliarden DM durch eine erhöhte
Versicherungspflicht- und Beitragsbemessungsgrenze erwartet. Beide Indikatoren
würden auf das Niveau der gesetzlichen Rentenversicherung angehoben.
Für den Rest der Legislaturperiode werden weitere strukturelle Eingriffe in das
GKV-System angekündigt: Dazu zählen die monistische Finanzierung des stationären
Sektors sowie neue Formen der ärztlichen Bedarfsplanung im ambulanten Bereich.
"Zielorientiert geprüft" würden darüber hinaus Einkaufsmodelle, eigene
Versorgungsstrukturen der Krankenkassen sowie zusätzliche
Finanzierungsgrundlagen für die GKV.
PZ-Artikel von Jürgen Becker, Bonn
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