Poirot – ein Rätsel bleibt noch ungelöst |
Jennifer Evans |
25.09.2023 07:00 Uhr |
Hercule Poirot ist ein Profi im Aufklären von Verbrechen. In den Augen einiger Fans könnte er noch ein weiteres Geheimnis hüten. / Foto: Picture-Alliance / Photoshot
Mit Hercule Poirot hat Agatha Christie (1890-1976) neben Miss Marple sicher einen der beliebtesten Helden in der Geschichte in der Kriminalliteratur geschaffen. Die Figur des detailverliebten und schnurrbärtigen Belgiers entstand im Jahr 1920. In den vergangenen Jahrzehnten analysierten einige Fans den Charakter auf eine Art und Weise, wie sie nicht explizit in der ursprünglichen Romanvorlage von Christie impliziert war.
Ein solches Phänomen nennt sich Headcanon, zusammengesetzt aus den englischen Worten »head« für Kopf und »canon« für Kanon. Eingeweihte Personen beziehungsweise neurodiverse Leser erkennen bestimmte Codes und betrachten den Protagonisten eines fiktiven Werks dann als Teil ihrer Gemeinschaft. In diesem Fall geht es um Poirot als Autisten, worauf Christie in ihrer literarischen Arbeit aber nie ausdrücklich Bezug nimmt. Das Konzept an sich ist umstritten, weil es die Gefahr birgt, die Komplexität von neurodiversen Typen stark zu vereinfachen.
Zwei Wissenschaftler aus Großbritannien haben Hercule Poirot aber einmal genauer unter die Lupe genommen und aufgelistet, was für eine solche Interpretation spricht. Einige Hinweise auf autistische Züge sind in den Romanen durchaus zu finden.
Zunächst einmal plant der Detektiv immer sehr genau, was er sagen und tun möchte, schreibt sogar seine Gespräche vor – ähnlich wie Autisten es oft tun. Seine Mitmenschen bezeichneten sein Verhalten oft als auffällig, extravagant, exotisch und empfänden oder betrachteten ihn einfach als anders oder gar seltsam, schreiben die Gesundheitswissenschaftlerin Dr. Rebecca Ellis von der Swansea Universität und der Autor Dr. Jamie Bernthal-Hooker, der auch als Gastdozent für Englisch und kreatives Schreiben an der Universität Suffolk tätig ist, in einem gemeinsamen Beitrag.
Außerdem liebt der Ermittler es, sich zu maskieren. »Ein Phänomen, das häufig von Autisten berichtet wird, bei dem sie Elemente ihrer selbst verbergen oder reduzieren, um sich anzupassen«, so die beiden Autoren. Poirot tut dies, indem er seine übertriebenen Eigenarten als Schutzschild nutzt, wohlwissend wie andere ihn sehen, und sich dann schon entsprechend verhält.
Darüber hinaus zeigt der Kriminalheld eine Vorliebe für Psychologie. Das ist den Wissenschaftlern zufolge ein nicht unübliches Interesse von Autisten. Sie versuchen dadurch, ein tieferes Verständnis für Menschen zu erlangen. In der Literaturvorlage stellt die Figur selbst fest, dass ihr Verstand anders funktioniert als der ihrer Mitmenschen. Als neurotypische Richtschnur dient ihm oft sein Begleiter und Freund Arthur Hastings, zu dem der Detektiv einmal sagte: »In dir, Hastings, finde ich den normalen Verstand fast perfekt abgebildet.«
Missverständnisse entstehen außerdem immer wieder, wenn der Belgier mit anderen Personen interagiert oder kommuniziert. »Poirot hält sich weniger an gesellschaftliche Normen und Gepflogenheiten und betrachtet jede Figur als Individuum, unabhängig von ihrem Alter, Geschlecht oder sozioökonomischen Status«, so Ellis und Bernthal-Hooker. Christie habe oft mit den Vorurteilen ihrer Leserschaft gespielt, während der Detektiv gezwungen war, über diese hinwegzusehen.
Die entscheidenden Tools, mit denen der Profi-Schnüffler seine Verbrechen aufklärt, sind Ordnung und Methode. Auch seine Umgebung – inklusive Hastings – muss stets sauber und ordentlich sein. Strenge Routinen herrschen bei Poirot rund ums Essen. Zum Frühstück darf es nur Toast in perfekt geschnittenen kleinen Quadraten sein. Dabei ist der Belgier sehr eigen. »Autisten finden oft Trost in der Vertrautheit und im Essen der gleichen oder sicheren Lebensmittel«, so die Wissenschaftler.
Und noch weitere Hinweise gibt es: Poirot trägt enge Lackschuhe. »Diese Gewohnheit hat wohl sensorische Gründe, was für Autisten und ihr Wohlbefinden sehr wichtig ist«, berichten Ellis und Bernthal-Hooker. Außerdem schätzt die Romanfigur es, wenn sie die passende Umgebung für ihre Sinne hat, um in Ruhe nachdenken und die Beobachtungen verarbeiten zu können.