Pilze sind erfolgreiche Netzwerker |
Jennifer Evans |
07.11.2022 10:45 Uhr |
Pilze gehen immer Symbiosen ein. Das hat sich für sie als eine perfekte Überlebensstrategie herausgestellt. Auch ihr Potenzial für neue Wohn- und Lebensformen rückt für die Forschung immer stärker in den Fokus. / Foto: Adobe Stock/nikitos77
Pilze stehen an der Grenze zwischen Leben und Tod. Stirbt ein Lebewesen, zersetzen sie seine Biomasse, so Vera Meyer, Professorin für Angewandte und Molekulare Mikrobiologie an der Technischen Universität Berlin. Die Pilzforscherin hatte kürzlich zusammen mit der Schering Stiftung zu einer Exkursion auf den Neuen Sankt-Jacobi-Friedhof in Berlin eingeladen, um sich passenderweise dort der Welt der Pilze zu nähern.
Insgesamt existieren rund 6 Millionen verschiedene Pilzarten auf der Erde, die meisten davon sind mehrzellig. Das bedeutet, sie bilden Myzel, ein unterirdisches Geflecht aus fadenförmigen Zellen. Sogar beim größten Organismus der Erde handelt es sich um einen Pilz, ein Honigpilz im US-amerikanischen Oregon. Experten schätzen, dass der Riesenpilz bis zu 8.500 Jahre alt sein könnte, eine Fläche von 9 Quadratkilometern hat und bis zu 400.000 Kilogramm wiegt.
Meyer fasziniert vor allem die Kommunikation der Pilze. Nicht nur, dass die Organismen blind sind, sie tauschen ihre Informationen auch ohne Gehirn oder zentralen Organisator aus – im Gegensatz beispielweise zu Bienen, die sich an einer Königin orientieren. Dennoch folgen sie einigen Regeln: Beim Wachsen entwickeln sie sich immer vorwärts, um mehr Raum zu erobern. Sie bleiben stets in Kontakt mit ihrem Ursprung und gehen außerdem immer Symbiosen mit anderen Lebewesen ein. Die Kommunikation mit anderen Arten hilft ihnen etwa beim Austausch von Gerüchen, Informationen zur Bodenbeschaffenheit, der Nähe zu Schädlingen oder beim Rezyklieren von Nährstoffen und dient letztlich dem Zweck »gemeinsam Ressourcen zu erschließen und so zu überleben«, schilderte Meyer. »Das Pilzmyzel ist praktisch ein Highway an Informationen«, der die Pilze unsterblich macht. Hinzu kommt die Fähigkeit der Fungi zur Apoptose, dem programmierten Zelltod. Auf diese Weise entfernt das Pilzmyzel automatisch geschädigte oder nicht funktionstüchtige Zellen.
Die unterirdischen Netzwerke des Mykorrhiza-Pilzes etwa erlauben den Bäumen das Wachstum, indem der Pilz deren Wurzeln besiedelt. »Die Pilze versorgen die Pflanzen mit Wasser und Nährstoffen wie Phosphate und Aminosäuren und erhalten im Gegenzug den aus der Photosynthese gewonnenen Zucker«, erörterte Meyer die Koexistenz. Letztendlich habe genau diese Symbiose den Urpflanzen unseres Planten erst eine Landbesiedlung ermöglicht. Und auch die Pilze sind es, die den Bäumen in den heißen Sommern das Leben retten.
Jeder Mensch trägt ebenfalls tausend verschiedene Arten von Pilzen und Bakterien mit sich herum. Sie ernähren sich von den abgestorbenen Zellen unseres Körpers und helfen uns dabei, Nährstoffe besser zu verwerten, das Immunsystem zu stärken sowie uns vor Krankheiten zu schützen. Darüber hinaus entscheiden sie laut Meyer mit, ob wir jemanden gut riechen können oder nicht. »Sie sind unser ständiger Begleiter und gehören damit zu unserer normalen Mikrobiota«, betonte sie. Diese Formen symbiotischer Lebensgemeinschaften bezeichne man seit Anfang der 90-er Jahre auch als Holobionten, Gesamtlebewesen.
Allerdings haben die Erkenntnisse zunehmend auch philosophische Fragen aufgeworfen: Wenn unsere Körperzellen gegenüber den Pilzzellen auf und in uns in der Minderzahl sind, sind wir dann noch Individuen? Auch dann, wenn unsere »holobiontischen Partner« für die Augen unsichtbar sind? Meyer hat darauf längst eine Antwort: »Ich glaube: Das Ich ist ein Wir.« Viel diskutiert ist im Zusammenhang mit anderen Intelligenzformen zudem die Frage: Ist für Intelligenz überhaupt ein Gehirn nötig oder ist das Streben nach ständiger Fortentwicklung und symbiotischer Kommunikation als nicht ebenso scharfsinnig einzustufen?
Pilze können aber noch mehr. Meyer nennt einige Beispiele aus dem Forschungsfeld Biomaterialien, in dem es unter anderem darum geht, langfristig weg vom Erdöl und hin zu einer nachhaltigen biobasierten Wirtschaft zu kommen. Laut der Mikrobiologin haben Pilze nämlich das Potenzial, nachhaltige Wohn- und Lebensformen zu schaffen. Mit ihrer Hilfe lassen sich nicht nur veganes Leder oder andere Stoffe für Kleidung produzieren und später sogar mit Pilzpigmenten färben, sondern auch Möbel herstellen, die dann aus Pilzbiomasse bestehen.
Als Ergebnis der Stoffwechselvorgänge des sogenannten Zunderschwamms oder Fomes Fomentarius können sogar neue Baumaterialien entstehen. Konkret läuft das so ab: Auf Reststoffen aus der Forst- und Agrarwirtschaft wie beispielsweise Schäben, Stroh oder Sägespäne wird gezielt Myzel gezüchtet. Bietet man dem Pilz Schäben und Co. als Nährstoffe an, beginnt er darauf zu wachsen und sein dreidimensionales Netzwerk – also das Myzel – um die Partikel zu spannen und diese fest miteinander zu verbinden. Schließlich entstehe ein stabiles, gut dämmendes und trotzdem leichtes Verbundmaterial zum Bauen, so Meyer. Die Masse lasse sich zudem in jede beliebige Form pressen und isoliere außerdem gegen Schall und Wärme. Die Pilzforscherin ist optimistisch: Mitte 2030 wird das erste Pilzhaus stehen. Der große Vorteil des Baustoffs liegt für sie auf der Hand: »Er lässt sich mühelos kompostieren, also wieder in den natürlichen Kohlestoffkreislauf zurückführen.«
Mit Schwarzschimmel wird seit rund 100 Jahren Zitronensäure hergestellt, unter anderem für die Pharmaindustrie. / Foto: Adobe Stock/sinhyu
Mit ihrem Forschungsteam arbeitet Meyer unter anderem mit dem Aspergillus Niger (Schwarzschimmel), den sie als »Pionier der Biotechnologie« bezeichnet, weil er mit seinem aktiven Stoffwechselzyklus »eine Art Blockbuster Zellfabrik« ist. Seit rund 100 Jahren wird dieser Organismus genutzt, um Zitronensäure herzustellen, die als Stabilisator, Konservierungsmittel oder auch in der Pharmaindustrie zum Einsatz kommt. Inzwischen sei er im Labor so umprogrammierbar, dass sich mit seiner Hilfe Säuren, Enzyme und Medikamente herstellen ließen. Die Ausgangsfrage bei jeder der neuen Forschungsaufgaben von Meyer ist: Wie wächst dieser Pilz und wie scheidet er seine Abfallprodukte wieder aus? Zusammen mit dem Wissen um dessen Genome können die Wissenschaftler Rückschlüsse ziehen, an welchen Genen sie konkret schrauben müssen, um mehr der gewünschten Ausscheidungen zu erhalten.
Verherrlichen will Meyer ihre Welt der Fungi aber nicht und hebt gleichermaßen deren Gefahr für die menschliche Gesundheit hervor. Ihren Angaben zufolge sterben jedes Jahr weltweit mehr Menschen an Pilzinfektionen als an Malaria oder Tuberkulose. Auf der anderen Seite steckt auch »viel Pilz« in gängigen Medikamenten wie Insulin, Penicillin oder Blutdrucksenkern. Ein Molekül, das den Schimmelpilzen dabei hilft, andere Pilze in ihrem Wachstum auszubremsen, beschäftigt die Mikrobiologin derzeit besonders. Gelänge es nämlich, daraus ein Medikament zu entwickeln, ließen sich künftig wirksam Infektionen bekämpfen.